Originaltitel: Joe__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2013__Regie: David Gordon Green__Darsteller: Nicolas Cage, Tye Sheridan, Heather Kafka, Sue Rock, Ronnie Gene Blevins, Robert Johnson, Adriene Mishler, Trevante Rhodes, Brenda Isaacs Booth, Erin Elizabeth Reed u.a. |
Nicolas Cage („Tokarev“) war in den letzten Jahren ziemlich in der Mittelmäßigkeit abgetaucht. Die falschen Rollen in den falschen Filmen schadeten seinem Ruf als Kinostar massiv, weshalb nun sogar wuchtigen Dramen wie „Joe“ nur noch begrenzte oder gleich gar keine Kinoeinsätze mehr zugestanden werden. Und gerade im Fall von „Joe“ ist das eine verdammte Schande, denn Cage war wohl selten besser als in diesem Film aus dem abgewrackten Herzen des südlichen Amerikas…
Joe lebt in einer kleinen Gemeinde irgendwo im Süden der USA. Abgerissene Häuser, verarmte Einwohner und der berühmt berüchtigte White Trash dominieren das Stadtbild. Joe ist einer der Arbeitgeber vor Ort. Im Namen einer großen Forstwirtschaftsfirma vergiftet er mit freiwilligen Hilfskräften, die er fair bezahlt, die zu schwachen und in Sachen Holzqualität minderwertigen Bäume vor Ort. Die Baumruinen sollen hernach beseitigt und durch Pinien ersetzt werden.
Ein vielleicht nicht erfüllender Job, aber für Joe reicht er. Arbeitet Joe nicht, wirkt er wie ein Getriebener. Ständig scheint er von einer inneren Unruhe erfasst zu werden. So streunt er durch seine Gemeinde, streift das Leben von deren Einwohnern und wird vor dem Auge des Zuschauers durch diese immer neuen Begegnungen zu einem greifbaren, authentischen Charakter. In dem eine Zeitbombe zu ticken scheint. Denn immer wieder sind da Momente, da explodiert Joe. Da existieren für ihn keine Regeln. Dieses Verhalten hat ihn auch schon in den Knast gebracht. Und obwohl er sich geschworen hat, nie wieder dahin zurückzukehren, bekommt er sich einfach nicht wirklich unter Kontrolle.
Und da tritt auf einmal Gary in sein Leben. Ein sympathischer, ruhiger Junge, der sofort ein gewisses Vertrauensverhältnis zu Joe aufbaut. Er bittet Joe um Arbeit für sich und seinen Vater und Joe willigt ein. Während Gary sich als beherzt zupackender junger Kerl entpuppt, zu dem Joe eine fragile Freundschaft aufbaut, ist Garys Vater Wade ein asoziales Arschloch, ausgekotzt selbst von der White Trash Gesellschaft. Er verprügelt seinen Sohn, ist stinkendfaul, bedroht seine eigene Familie und schreckt für einen Tropfen Alkohol nicht einmal vor Mord zurück.
Als Joe Zeuge wird, wie Gary von seinem Vater verprügelt wird, schreitet er nicht ein und hasst sich selbst dafür. Doch er selbst ahnt, dass die Zeit kommen wird, in der er wieder explodiert und mit Sicherheit werden sich dann seine und die Wege von Garys Vater kreuzen…
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„Joe“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Larry Brown. Dieser kam aus genau dem Milieu, das er in seinem Buch und unzähligen Kurzgeschichten immer wieder mit aller Brutalität skizzierte. In seinem Job als Feuerwehrmann und im Rahmen unzähliger Nebenjobs lernte er einfachste Menschen der Arbeiterklasse und deren Eigenheiten kennen, die er als Inspiration für die Figuren in seinen Storys nutzte. „Joe“ war dann der erste Roman, für den er auch einen Verleger fand. Dessen Verfilmung erlebte er allerdings nicht mehr mit, verstarb er doch im Jahr 2004. Drehbuchautor Gary Hawkins empfand „Joe“ als stärkstes Buch des Autoren und formte es zu einem Drehbuch, auf das er zu Recht sehr stolz war. Der Zufall wollte es, dass mit David Gordon Green (eigentlich eher für grobe Komödien a la „Ananas Express“ bekannt) ein ehemaliger Student Hawkins, der sein Wissen über die Schriftstellerei als Professor an diversen Unis weitergab, über das Drehbuch „stolperte“ und es umsetzen wollte. Gemeinsam formte man eine etwas freiere Interpretation der Geschichte…
Als dann auch noch Nicolas Cage von dem daraus resultierenden Drehbuch begeistert war, schickte man sich an, den Film mit geringen finanziellen Mitteln in Szene zu setzen. Das Ergebnis ist rau, echt, wütend, bedrückend und humorvoll in gleichem Maße. Von Beginn an etabliert Green eine dichte, drückende und unheilvolle Atmosphäre, die schwer auf den Charakteren und der Handlung liegt. Strahlende Helden gibt es in „Joe“ keine. Nur ganz normale Leute. Eindrucksvoll verkörpert zum Beispiel durch die Arbeiter, die für Joe die Bäume vergiften. Diese rekrutieren sich weitgehend aus von der Straße weggecasteten Tagelöhnern! Diese Laiendarsteller entwerfen in „Joe“ mit ihren Eigenarten, ihrer normalen Körpersprache und ihrem beständigen Gebrubbel, bei dem sie immer kommentieren, was sie gerade machen, absolut authentische, lebendige, wirkliche Charaktere. Die entstehenden Figuren scherzen miteinander, reißen vulgäre Witze, wissen aber auch, worauf es im Leben ankommt, weshalb sie sich für Joe und den freitäglichen Lohnscheck den Arsch aufreißen. Dieses Unverstellte, Wahrhaftige verleiht „Joe“ von Beginn an eine vollkommen eigene Note.
Und Green gelingt aufgrund dieses Vorgehens ein weiter Coup: Er castete für Garys Vater den Stadtstreicher Gary Poulter, der das egoistische und selbstsüchtige Dreckschwein Wade mit unfassbarer Kraft und Intensität zum Leben erweckt. Und der es trotzdem schafft, dass man ab und an Mitleid für ihn empfindet, weil man weiß und sieht, dass diese Figur in ihrem ganzen Leben nicht eine einzige Chance bekommen hat… und sie vermutlich nicht einmal erkennen würde. Die Figur des Wade gewinnt auch durch kleine, aber entscheidende Eingriffe in die Romanvorlage, wo er, was in den Extras zum Film angedeutet wird, weitaus weniger menschlich gezeichnet wird. Der Drehbuchautor und der Regisseur bezeichnen ihn einhellig als übelsten Bösewicht, den es jemals in einem Roman gegeben habe. Im Film ist er nun ein Typ mit ganz ganz üblen Fehlern, der allerdings in klaren Momenten auch weiß, dass er ebenjene hat. Traurigerweise durfte Poulter nicht mehr miterleben, wie monströs er in „Joe“ wirkt, denn er starb kurz nach den Dreharbeiten.
Ein ebensolches Schauspielereignis ist Tye Sheridan („Mud“) als Gary. Er trifft jede Nuance seines Charakters absolut auf den Punkt, hat eine fantastische Chemie mit Nicolas Cage und schafft es spielend, den Zuschauer vollkommen für sich einzunehmen. Was freilich auch wichtig ist, denn Gary ist der Auslöser für all die tragischen Ereignisse, die folgen werden. Schnell wird dabei klar, dass Joe in dem Jungen ein jüngeres Abbild seiner selbst sieht und gerne verhindern würde, dass er so wird, wie er: Unstet, aggressiv, launisch. Interessanterweise wäre der Junge sichtlich stolz, so zu sein wie Joe, hat er doch viel größere Angst davor, so zu werden wie sein eigener Vater. Weshalb er in Joe auch eher eine Vaterfigur und weniger einen Freund sieht. Sein respektvoll ausgesprochenes Sir deutet es immer wieder an. Seinen Vater nennt er niemals so…
Und Cage? Der macht das einzig Richtige: Er lässt sich von der Spielfreude aller am Film beteiligten Profi- und Laiendarsteller anstecken und ruft seine beste Schauspielleistung seit Jahren ab. All seine typischen Manierismen lässt er für diesen Film fahren. Er verschwindet hinter der Figur des Joe, wird eins mit ihr und überzeugt sowohl in den ruhigen Momenten als auch in den Szenen, in denen Joe aus seiner Haut fährt und für sich und seine Umgebung vollkommen unberechenbar wird.
Regisseur David Gordon Green nahm dieses Geschenk dankbar an bzw. befeuerte es noch, indem er alle Schauspieler beständig antrieb, zu improvisieren, was sie offensichtlich gerne taten. Er selbst schuf dafür einen in kräftigen Erdfarben gehaltenen, konzentriert in Szene gesetzten Rahmen, der frei von optischen Sperenzchen die Stars seines Filmes – Story und Schauspieler – glänzen lässt. Einzig in den Nachtszenen arbeitet er mit einem extrem steilen Kontrast und einem satten Schwarz, wie man es lange nicht gesehen hat. Dabei saufen sehr viele Details ab und man muss bei den nicht wenigen Nachtszenen sehr konzentriert bleiben, um zu erfassen, was passiert. Der Soundtrack macht im Grunde dasselbe, was die Kamera macht: Er stellt sich in den Dienst des großen Ganzen und bleibt eher verhalten im Hintergrund. Seine Aufgabe besteht darin, die transportierten Stimmungen sphärisch zu untermalen, was Jeff McIlwain und David Wingo formidabel gelingt.
Dass Nicolas Cage in der Wahrnehmung vieler inzwischen der reine Action-Zampano ist, merkt man auch an der Vermarktung von „Joe“ im hiesigen Sprachraum. Der unpassende Untertitel „Die Rache ist sein“, der rein inhaltlich keinerlei Entsprechung in dem Film findet, könnte vermutlich sehr falsche Erwartungen wecken. Darum kurz etwas zum Thema Action: Selbige gibt es in „Joe“ nicht. Zweimal wird im Film geballert. Diese Einlagen sind zwar ziemlich hart und realistisch gehalten, machen aber einen verschwindend geringen Bruchteil des knapp zweistündigen Filmes aus. Was auch nicht schlimm ist, denn „Joe“ braucht keine Action!
Denn in „Joe“ geht es nicht um Helden, eine Rachestory, ein Happy End, Explosionen und fliegende Kugeln. Vielmehr ist „Joe“ ein Ausschnitt aus dem Leben dreier Männer, deren Lebenswege sich auf zunehmend verhängnisvolle Art und Weise kreuzen. Daraus resultiert ein schweres, intensives und auch hartes Drama, das vollkommen entschleunigt seinen Figuren Raum zum Atmen gibt und von großartigen Schauspielleistungen gekrönt wird. Fein eingewobener Humor, der mal lakonisch, mal befreiend und mal sehr schwarz daherkommt, erdet die Schwere des Stoffes, gibt ihm bewusst hoffnungsvollere Momente und verhindert, dass „Joe“ in einem Meer aus Betroffenheit versinkt. Das Ergebnis ist authentisch, menschlich und fühlt sich wundervoll echt an. Eine Schande, dass solche Geschichten nicht mehr auf deutsche Leinwände gehievt werden…
Die deutsche DVD/Blu-ray zum Film erscheint am 23. Oktober 2014 von KochMedia und ist mit einer FSK 16 Freigabe ungeschnitten. Interessante Extras zum Film erlauben ebensolche Einblicke hinter die Kulissen der kleinen Produktion.
In diesem Sinne:
freeman
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