Originaltitel: The Whole Truth__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2016__Regie: Courtney Hunt__Darsteller: Keanu Reeves, Renée Zellweger, Gugu Mbatha-Raw, Gabriel Basso, Jim Belushi, Sean Bridgers, Christopher Berry, Nicole Barré, Erica McDermott, Lara Grice u.a. |
„The Whole Truth“ ist trotz seiner namhaften Besetzung mit Keanu Reeves („John Wick: Kapitel 2“) und Renée Zellweger („Dazed and Confused“) ein im besten Sinne kleiner Film. Der, obschon dem Gerichtsfilm-Genre zugehörig, um die üblichen Klischees dieser Filme einen großen Bogen macht. In „The Whole Truth“ wird nicht der Holzhammer geschwungen. Es wird nicht permanent „Einspruch“ gebrüllt. Es gibt keine plötzlich auftauchenden Zeugen, keine Pressemeute vor dem Gerichtssaal und die Plädoyers dauern keine 10 Minuten oder stellen den ganzen Film auf den Kopf. Sogar der Gerichtssaal ist grandios unspektakulär und die Musik zum Film übt sich selbst in den spannenden Momenten in Zurückhaltung.
Regisseurin Courtney Hunt („Frozen River“) fokussiert stattdessen vollständig auf ihre Story und die Art und Weise, wie sie sie in Szene setzt: Der Anwalt Ramsey hat einen kniffligen Fall an der Backe. Er muss Mike verteidigen. Mike ist ein guter Freund von Ramsey. Der seinen eigenen Vater Boone umgebracht haben soll. Mit Boone ist Ramsey als Anwalt der Familie auch in Freundschaft verbunden gewesen. Doch es wird noch kniffliger!
Das Problem: Mike redet seit dem vermeintlichen Mord kein Wort mehr. Nicht einmal mit Ramsey. Der steht vor der herkulischen Aufgabe, ohne irgendwelche zielführenden Informationen eine wasserdichte Verteidigung aufzubauen. Obendrein wird Mike wegen der Schwere der Tat vor Gericht nicht als Jugendlicher betrachtet, sondern nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt. Die Lage könnte verzwickter kaum sein.
Keanu Reeves als Anwalt in dem spannenden Verwirrspiel „The Whole Truth“
httpv://www.youtube.com/watch?v=CGrDl1Ebza4
Die Story alleine birgt ergo schon einige interessante Spannungsmomente. Doch das Interessanteste an „The Whole Truth“ ist, wie die Regisseurin ihre Geschichte umsetzt. Ihr Ziel ist es, von Minute eins an Zweifel zu sähen. Nachdem sie den Zuschauer ohne irgendeine Ansage mitten in die Gerichtsverhandlung hineinwirft, konterkariert sie jede Aussage der Zeugen mit Bildern, die deren unter Eid getätigten Angaben als Lügen offenlegen. In diesem Fall scheint jeder irgendetwas zu verbergen zu haben. Und so lügen sich die Protagonisten munter durch den Film.
Die einen lügen aufgrund der sozialen Erwartungen an ihre Rollen. Andere lügen, weil sie befürchten, sonst ihren Job zu verlieren. Und der Rest lügt, weil er tatsächlich etwas zu verbergen hat. Oder lügen sie gar nicht? Werden wir getäuscht? Ist alles Taktik? In der Folge traut man irgendwann keinem mehr. Weder den „Zeugen“ noch den Bildern, die ihre Lügen „belegen“. Denn woher sollen wir als Zuschauer denn wissen, was nun wahr ist? Die Wahrheit in „The Whole Truth“ ist kaum mehr als ein anderer Standpunkt. So knallen einige Twists im Film noch mehr, denn selbst jene muss man beständig hinterfragen. Sind diese nun wahr oder wieder ein Mittel des Drehbuchs, uns erneut zu verwirren?
Das Schöne: „The Whole Truth“ hält dieses Verwirrspiel bis zum tollen Ende problemlos aufrecht. Befeuert die Spannungskurve immer weiter. Und lässt den Zuschauer munter mit rätseln. Nebenbei kreiert es auch ein paar sperrige Figuren, die ihrerseits beständig zur Verunsicherung beim Zuschauer beitragen. Und die von den Stars großartig gespielt werden. Vor allem Keanu Reeves macht als Anwalt eine erstaunlich gute Figur. Das gewohnt Steife ist diesmal gar nicht da. Was vermutlich auch daran liegt, dass Reeves seinem Anwalt eine teilweise erstaunlich laxe Art angedeihen lässt. Frau Zellweger spielt ebenfalls gut, muss sich aber fragen lassen, was sie da mit ihrem Gesicht hat machen lassen. In den ersten Minuten habe ich sie nicht einmal erkannt! Erst mit fortschreitender Laufzeit wurde mir klar, dass diese Person Bridget Jones sein soll. Als Boone darf zudem James Belushi („Retroactive“) einen wundervoll hassenswerten Widerling entwerfen und Gugu Mbatha-Raw („Free State of Jones“) eine feine Chemie mit Keanu Reeves entwickeln.
In Sachen Technik besticht der Film in den Gerichtsszenen mit Brauntönen, die allerdings keine sonderliche Wärme ausstrahlen dürfen. Die vielen Rückblenden, die die Wahrheit – oder eben eine Variation davon – aufdecken, bedienen sich derweil einer kräftigen, ungefilterten Farbigkeit. Die Inszenierung kann mit ihren zahlreichen, langen, statischen Einstellung als angenehm altmodisch umschrieben werden und die Musik ist, wie bereits angedeutet, sehr zurückhaltend eingeflochten. Darf eigentlich nur im Finale groß auftrumpfen.
Und das hat es wirklich in sich. Rundet „The Whole Truth“ trefflich ab und stellt noch einmal viel von dem bisher Gesehenen auf den Kopf. Dieses Gespinst aus Ungewissheit, Lügen und vermeintlichen Wahrheiten macht wirklich Spaß und ist äußerst unterhaltsam konstruiert. Aber, und damit schlagen wir den Bogen zur Einleitung meiner Kritik, so wirklich gepackt wird man trotz alledem nicht. Mehr als einmal erwischt man sich dabei, dass einem die vertrauten Klischees des Gerichtsfilmes teilweise richtig fehlen. Dass so manche Redeschlacht der Dynamik zwischen den Figuren gut getan hätte. Dass eine deutlich fieser aufgestellte Staatsanwaltschaft (die ist im Film arg farblos geraten) noch mehr involviert hätte… Und so wird dem kleinen Film genau dieses Kleine, das ihn besonders macht, auch ein wenig zum Verhängnis. ABER eine Chance sollte man „The Whole Truth“ dennoch geben. Er, seine vertrackte Dramaturgie und die beherzten Darsteller haben es definitiv verdient.
„The Whole Truth“ erscheint am 6. April 2017 von Eurovideo auf DVD und Blu-ray und ist mit einer FSK 12 Freigabe ungeschnitten. Ein Interview mit James Belushi und Gabriel Basso (spielt Mike) liefern ein paar Infos zur Entstehung des Filmes.
In diesem Sinne:
freeman
Was meint ihr zu dem Film?
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