Originaltitel: Tesis__Herstellungsland: Spanien__Erscheinungsjahr: 1996__Regie: Alejandro Amenábar__Darsteller: Ana Torrent, Fele Martínez, Eduardo Noriega, Xabier Elorriaga, Miguel Picazo, Nieves Herranz, Rosa Campillo, Francisco Hernández, Rosa Ávila, Teresa Castanedo, José Miguel Caballero, Joserra Cadiñanos u.a. |
Obacht: Wer einen Blick auf „Tesis“ zu werfen wagt, wird selbst von ihm beobachtet. Und der Spiegel, den Alejandro Amenábar aufstellt, ist die reflektierende Linse einer Videokamera.
Unbeteiligt auf der Couch lümmeln und sich vom Gesehenen nicht bewegen zu lassen, ist beim Debüt des spanisch-chilenischen Regisseurs schon deswegen keine Option, weil es eine medientheoretische Abhandlung darstellt, in die man selbst effektiv einbezogen wird. Sie betrifft jeden, der sich generell mit Filmen befasst – was also per definitionem ausnahmslos das gesamte Publikum von „Tesis“ mit einbezieht, ja selbst Leser dieses Textes, der sich auf ihn bezieht.
Schon in der Prologsequenz, die den Suspense wie einen dunklen Schatten in die Gewöhnlichkeit des Alltags einarbeitet, wird ein verrohtes und pervertiertes Gesellschaftsbild gezeichnet und auf perfide Weise mit den Instinkten des Zuschauers gespielt. Der nämlich mag seine Nase rümpfen über die Schaulustigen, die sich um den von der Bahn zerteilten Selbstmörder versammeln; böte der Blickwinkel aber vor dem Schnitt noch einen kurzen Blick auf die Leiche, die wenigsten würden ihn wohl ausschlagen.
Die Theoretisierung des Mediums Film, die Amenábar für eine distanzierte Analyse des eigenen Handwerks benötigt, legt sich in diesem Fall im Setting einer Universität nieder. Der Horrorfilm wird zum wissenschaftlichen Gegenstand, den es unabhängig von persönlichen Gefühlen für eine Magisterarbeit zu analysieren gilt. Die Figuren sind sich ihrer Mittendrin-Funktion als Meta-Gefäß nicht so bewusst wie jene aus „Scream“, vielmehr suchen sie eine objektive Perspektive auf das Abgründige und müssen erst im Laufe der Entwicklungen mit Schrecken erleben, wie dieses Abgründige, in einem Moment noch graue Theorie, immer weiter in ihr echtes Leben vordringt. Der deutsche Film zog einige Jahre später mit „Anatomie“ nach, der in einem vergleichbaren Setting nach ähnlichen Mustern verfuhr.
Anders als „Anatomie“, der den Mustern des Slasherfilms stark verpflichtet ist, lässt sich „Tesis“ aber nur schwer anders kategorisieren als mit dem Sammelbegriff des Thrillers. Spezifischeren Kategorisierungsversuchen entzieht er sich alleine schon des Tabu-Themas wegen, das er behandelt. Es ist ein Film, der schichtweise das Grauen aufdeckt, das sich zuerst über kleine Indizien andeutet und schließlich zur großen Verschwörung reift, die sich mitten unter uns abspielt, in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft. Eine solche Dramaturgie wird in vielen Bereichen angewandt, oftmals in europäischen Produktionen; Ein Dario Argento nutzte sie in „Horror Infernal“ ebenso wie Mathieu Kassovitz in „Die purpurnen Flüsse“.
Entscheidend bei der Gesamtbetrachtung ist deswegen die örtliche und zeitliche Einordnung. Der spanische Horrorfilm legte seine Wurzeln in den 60er und 70er Jahren mit Horrorfilmen aus dem Fantasy-Bereich („La Marca Del Hombre Lobo“ und folgende Werwolffilme mit Paul Naschy), die im politisch-gesellschaftlichen Kontext als eskapistische Wege aus der Realität betrachtet werden konnten. Als das Franco-Regime in den letzten Zügen lag, wurden diese Kontexte jedoch bereits zunehmend in die Handlungen von Horror-Produktionen eingewoben, ein Muster, das bis heute geblieben ist. So arbeitete schon Serradors „La Residencia“ (1970) verstärkt mit Motiven der Repression; auch Del Toros „The Devil’s Backbone“ (2001) und „Pans Labyrinth“ (2006) griffen mit der Darstellung des spanischen Bürgerkriegs historische Ereignisse direkt auf und verwoben sie mit dem Phantastischen. Inzwischen ist der spanische Film hauptsächlich urbanen Geschichten verschrieben, die mit modernen Mitteln erzählt werden; allen voran mit der 2007 gestarteten Found-Footage-Reihe „[REC]“, in der die Videokamera schon der Machart wegen eine wichtige Rolle spielt.
Schaut in “Tesis” hinein
httpv://www.youtube.com/watch?v=I0AKPEURXs4
„Tesis“ darf in dieser Hinsicht als einer der Vorreiter bezeichnet werden. Gedreht wurde er zu einer Zeit, da die DVD bereits erfunden, auf dem Markt aber noch nicht verbreitet war. VHS-Kassetten sind noch das bevorzugte Medium zur Verbreitung von Filmmaterial. Amenábar zeigt viele Szenen, in denen die klobigen Datenträger eine Reihe im Wandregal bilden, weitergereicht und abgespielt werden. Gestapelt in Universitätsarchiven oder in der Wohnung des freakigen Uni-Bekannten der Hauptdarstellerin, der die Outsiderin in die Welt des Gewaltfilms einführt, projiziert auf einen alten Röhrenfernseher oder die große Leinwand im Hörsaal: Die VHS ist in diesem Zeitdokument wahrhaftig noch am Leben, wenn auch unterhalb des Radars der Öffentlichkeit als eine Art Währung der Unterwelt, und sie prägt mit ihren Glitches und Bildverunreinigungen wesentlich den Look von „Tesis“. Die verwaschene Bildqualität der Videokassette hilft Amenábar dabei, die Gewalt zu verwischen, die er ohnehin durch schnellen Schnitt, scharfe Close-Ups und abrupte Schwenks kaum mehr als andeutet. Wer in Reaktion darauf nach mehr Blut verlangt, tritt prompt in die Falle und ist entlarvt. Das Konzept „Snuff“ bleibt indes ein Mysterium. Warum, beginnt jeder Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Thema, warum sollte jemand so etwas Schreckliches tun? Und wer schaut sich so etwas an?
Der Demokratie, die sich in den Jahrzehnten nach der spanischen Diktatur ausgebildet hat, scheint Amenábar jedenfalls noch nicht so ganz zu trauen. Wenn im brillant konzipierten Krankenhaus-Finale die animalische Natur des Menschen aufdeckt und das Zivilisierte als trügerischer Schein entlarvt wird, verhält er sich konform gegenüber der zeitgenössischen spanischen Filmszene, die gerne nach Bruchstellen in der perfekten Oberfläche sucht und dazu auch gerne zur modernsten Technik greift. Nicht selten hat das Ganze mit Voyeurismus oder Überwachung zu tun, Themen, die auch in „Tesis“ omnipräsent sind und effektiv transportiert werden. In einer Traumsequenz gelingt Amenábar mit dem roten Auge der aufnehmenden Kamera zum Beispiel eine herausragende Komposition Hitchcock’scher Prägung, die den typischen Jump Scare jüngerer Gattung regelrecht vorführt.
Es soll nicht unterschlagen werden, dass man bei der Figurenzeichnung nicht umhin kam, zum Teil extreme Comic Reliefs einzubauen, um den unter dem Strich subversiven Umgang dem Thema zu gewährleisten. Chema (Fele Martinez) gehört zu den grundsätzlich interessantesten Figuren des Films, was wohl auch damit zu tun hat, dass er vom Regisseur trotz seiner Abgestumpftheit gegenüber pornografischen und gewalttätigen Inhalten nicht verurteilt wird (wenn er auch für die Enthüllung des wahren Psychopathen immer ein möglicher Kandidat bleibt). Der hagere, langhaarige, schwarze T-Shirts mit Horrorfilmmotiven tragende Einzelgänger bildet aber ein arges Klischee, seine düstere, mit allerhand Requisiten aus Horrorfilmen vollgestopfte Wohnung schießt dann endgültig über das Ziel hinaus. Dahingehend, dass sie sinnbildlich für den Übergang auf die dunkle Seite fungiert, erfüllt sie allerdings ihren Zweck. Ana Torrent bestreitet ihre Rolle ein wenig blass, was immer dann hilfreich ist, wenn sie ob der Gräuel auf dem Fernsehbildschirm von Übelkeit heimgesucht wird. Als es jedoch um ihr eigenes Leben geht, hätte man sich eine impulsivere Darstellerin gewünscht, die dazu in der Lage ist, die nackte Verzweiflung greifbar zu machen und ebenso intensive Emotionen gegenteiliger Art. Auch Eduardo Noriega als ominöser „Homme Fatal“ und Xabier Elorriaga als Professor bleiben Klischees ihrer jeweiligen Rollengattung und führen gerade den mit falschen Fährten ausgelegten Mittelteil tief in ausgewalzte Whodunit-Schemata.
Im Gesamten ist Alejandro Amenábar mit seinem ersten Film aber nicht nur ein packender Thriller gelungen, sondern auch eine komplexe Auseinandersetzung mit Gewalt in den Medien der 90er Jahre, die insbesondere im Aufbau und dann wieder im Finale auf ganzer Linie überzeugt – gerade hinsichtlich des Dilemmas zwischen Trieb und Vernunft, für das sich die Idee vom Snuff-Film als wertvolle Diskussionsgrundlage herausstellt.
Informationen zur Veröffentlichung von “Tesis”
Eines ist sicher: Eine Neuauflage war dringend nötig! Im deutschen Raum existierte bislang nur eine deutsche DVD von Laser Paradise (und ein später nachgereichtes Repack dieser DVD von VPS/Sunrise). Diese enthielt den ungeschnittenen Film, allerdings ohne spanische Original-Tonspur und abgesehen vom Trailer ohne Extras.
Das Blu-ray-Debüt darf nun dank Wicked-Vision-Behandlung mit satten vier Discs seine Premiere feiern, was selbst für dieses Spezialitäten-Label einen Ausnahmefall darstellt. Das Paket enthält eine Blu-ray mit dem Hauptfilm und massig Extras, ferner das komplette Material der Blu-ray verteilt auf zwei DVDs sowie die Soundtrack-CD mit 19 Tracks und knapp 38 Minuten Filmmusik. Das klingt soweit schon mal nach einer Menge Stoff.
Zunächst aber zum Hauptfilm. Dieser liegt in 1,85:1 / 1080p vor. „Tesis“ weist von Natur aus einen relativ sterilen TV-Look auf, was zum filmstudentischen Setting durchaus passt. Das Bild gibt diesen Look angenehm neutral wieder, ohne in Sachen Schärfe zu brillieren, das hätte man bei einem solchen Titel aber ohnehin nicht erwartet.
Zum Ton: Dieser erlaubt nun auch eine Sichtung mit Originalton. Die spanische Tonspur ist sogar in DTS-HD MA 5.1 abgemischt, die deutsche Synchronisation liegt dagegen nur in 2.0 Stereo vor. Es gibt Szenen in diesem Film, da hätte man sich vielleicht den ein oder anderen räumlichen Effekt gewünscht, insgesamt ist das Format aber gerade für einen mehr als 20 Jahre alten Film absolut ausreichend, zumal die Suspense-Szenen im Geiste Hitchcocks eingerahmt werden von vielen Dialogpassagen. Ein, zwei kurze Tonfehler fallen auf (einmal mischt sich kurz leises Rauschen in die Boxen, einmal wird ein kurzer Tonausschnitt von ca. 1 Sek. doppelt abgespielt). Davon abgesehen genügt die audiovisuelle Präsentation den Ansprüchen, die man an diesen Film stellen kann.
Extras gibt es, wie die Anzahl der Discs schon verrät, massig. Die Gesamtspielzeit des kompletten Bonusmaterials abzüglich der Audiokommentare und der Soundtrack-CD beläuft sich auf mehr als zwei Stunden. Und schon dank der Audiokommentare kann man mit dem Film mehrere Runden drehen. Einmal kommt der Regisseur in einem spanischen Audiokommentar zu Wort, in einem zweiten Audiokommentar darf Prof. Dr. Marcus Stiglegger über den Film, dessen Genre-Kontext und das Thema „Snuff“ referieren – was besonders deswegen interessant ist, weil Stiglegger eigene Erfahrungen mit dem Studienfach der Filmwissenschaft weitergeben kann, in welchem er beruflich tätig ist.
Kernstück der Video-Extras ist sicherlich Amenábars zweiter Kurzfilm „Himenóptero“ (dt.: „Hautflügler“), der auf dieser „Tesis“-Veröffentlichung deswegen sehr sinnvoll platziert ist, weil er mit dem Hauptfilm in vielerlei Hinsicht verknüpft ist – nicht nur, weil eine der Figuren (gespielt von Amenábar selbst) ebenso wie der Antagonist in „Tesis“ Bosco heißt. Wie viele Filmanfänger versucht der damals 19-jährige Regisseur, das Drehen von Filmen zu reflektieren und in einem Meta-Kontext Theorie mit Praxis bzw. Spiel mit Realität zu verbinden. Manchem mag eventuell sauer aufstoßen, dass der rund 33-minütige Film im weiteren Sinne Tierquälerei enthält, auch wenn sich diese „nur“ gegen Insekten aus der Ordnung der Hautflügler richtet, die im Titel referenziert werden; eine offenbar verletzte Wespe, ein Käfer, der die Toilette hinuntergespült wird und eine Ameise, die zerdrückt wird.
Hinter der Featurette „Touching Death“ verbirgt sich ein gut 40-minütiges, auf englisch geführtes Interview mit Alejandro Amenábar, das offenbar in der Vorbereitungsphase seines bis dato letzten Films „Regression“ (2015) entstand. Besonders interessant dabei ist es, wie er seine Vorbilder einordnet: So erwähnt er, Michael Hanekes „Funny Games“ sei einer seiner Lieblingsfilme im Sinne einer filmischen These (also nicht unbedingt, um ihn mit Kumpels auf der Couch zu sehen), er sei allerdings im Kino kurz davor gewesen, den Saal zu verlassen – und hätte er ihn gesehen, bevor er „Tesis“ drehte, wäre der womöglich in dieser Form nicht zustande gekommen, weil Haneke mit „Funny Games“ Dinge kritisiere, die „Tesis“ anwende.
Hinzu gesellt sich noch ein klassisches Making Of aus der Entstehungszeit (ca. 23 Min.), weiterhin Deleted Scenes im Rohschnitt (ca. 7 Min.), die manchen Charakter in einem etwas anderen Licht hätten erscheinen lassen. Im Storyboard (ca. 14 Min.) kann man die Entstehung bestimmter Szenen von der Konzeption bis zur Umsetzung begutachten. Dazu gibt es noch eine Bildergalerie (ca. 6 Min.), das Presseheft, Teaser und Trailer.
Wie immer wurde alles komplett neu deutsch untertitelt, sowohl Film als auch Extras. Viele relevante Features verfügen außerdem über englische Untertitel (Hauptfilm, Audiokommentar mit dem Regisseur, Making Of etc.), was auch der ausländischen Vermarktung dienlich sein dürfte.
Und weil ja auch das Auge mitisst, wurde das Ganze in die gewohnten Hochglanz-Digibooks verstaut. Für Cover A wurde das alte VHS-Cover für die digitale Generation konserviert. Das Motiv ist eher Geschmackssache und weist wohl deswegen auch die knappste Limitierung auf (333 Stück). Cover B und C liegen bei 666 bzw. 444 Stück.
Die Discs liegen im Inneren auf je zwei Doppel-Trays. In der Mitte des Buchs wartet ein 24-seitiges Booklet mit gehaltreichem Text von David Renske, der sich umfangreich mit dem Film und dessen provokanten Thema auseinandersetzt. Dazu gibt es noch die Tracklist des beigefügten Soundtracks.
Sascha Ganser (Vince)
Bildergalerie von “Tesis”
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