Originaltitel: A Torinói ló / The Turin Horse__Herstellungsland: Deutschland / Frankreich / Schweiz / USA / Ungarn__Erscheinungsjahr: 2011__Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky__Darsteller: János Derzsi, Erika Bók, Mihály Kormos, Ricsi |
Mit gemächlichen Hufschritten führt uns „Das Turiner Pferd“ fort von der Piazza Carignano, an der sich im Januar 1889 eine an sich profane, im überlieferten Kontext jedoch bedeutsame Szene abgespielt haben soll: Friedrich Nietzsche umarmte demzufolge von Mitleid getrieben ein erschöpftes Pferd, das vom eigenen Kutscher geschlagen wurde. So jedenfalls behauptete es sein Vermieter im Gespräch mit einem italienischen Journalisten. Ob die Geschichte wahr ist oder nicht, müsste im Zuge der Mythologisierung eigentlich an Relevanz verlieren; da Nietzsche jedoch am selben Tag einen Zusammenbruch erlitt, von dem er sich nie wieder erholte, eignet sich die Geschichte als Interpretationsfläche für das Spätwerk des weltberühmten deutschen Philosophen: Was könnte wohl Ursprung dieser empathischen Geste sein, die der Schöpfer überlebensgroßer Ideen einer armseligen Kreatur wie einem Zugpferd entgegenbrachte, bevor er der Lethargie anheim fiel?
Das Pferd aus ebenjener Anekdote wird nun für kurze Zeit von seiner symbolischen Verknüpfung mit Nietzsches letzten Jahren gelöst. Muskeln und Sehnen verlagern sich in Bewegung geschmeidig unter dem Fell, während es mechanisch einen Karren zieht. Ein mühsamer Akt, zumal kräftiger Wind weht. Am Steuer ein weißhaariger Mann (János Derzsi), der gleich auf den ersten Blick als Gleichgesinnter des Kutschers ausgemacht ist. Bei ihm seine Tochter (Erika Bók), die eigene Aufgaben in der Zweckgemeinschaft zugewiesen bekommt. Die Kamera jedoch konzentriert sich während dieser minutenlangen Prozession keineswegs auf die Menschen, die den Takt vorgeben, sondern auf den tierischen Motor. Schwunghaft, fast schaukelnd wechselt die Perspektive vom Seitenprofil vor den Karren, gleitet unter die schnaufenden Nüstern und wieder zurück. Das Pferd nimmt von der aufgewühlten Umgebungsatmosphäre dank Scheuklappen keine Notiz. Es setzt einfach einen Huf vor den anderen und erarbeitet sich dadurch Meter für Meter den Weg.
Ziel der langwierigen Fahrt ist das Heim des dreiköpfigen Gespanns, ein nihilistischer Mikrokosmos bestehend aus einem Bauernhaus, einem Stall, unzähligen Hektaren trockenen Flachlands und einem Steinbrunnen. Der Sturm tobt weiter und lässt Laubwerk kleine Tänze in der Luft vollführen. Davon unberührt bleibt der Arbeitsablauf des Bauers und der Bauerntochter im Umgang mit dem Vieh: Bänder, Riemen, Klappen und Gürtel werden bei Ankunft in aller Ruhe abgenommen und das Tier nach erledigter Aufgabe langsam in den Stall geführt – nicht mit einer anderen Geschwindigkeit oder Sorgfalt, als herrschte strahlender Sonnenschein. Versorgt wird es gut. An Heu und Wasser fehlt es ihm nicht, der Mist im Stall wird aufgesammelt. Doch schon früh fällt auf, dass jede Interaktion zweckgerichtet ist. Kein Streicheln, kein Zeichen der Zuneigung, kein Trost. Nicht nur wird das Pferd entgegen seiner Natur alleine gehalten, es kann sich nicht einmal der Zuneigung seiner Halter sicher sein. Das Scheunentor wird geschlossen und das Pferd im Dunkeln zurückgelassen… wie ein Gegenstand, der gut behandelt gehört, damit er möglichst lange funktionstüchtig ist.
Die folgenden Szenen im Haus zeigen aber, dass dies kein Fall von Anthropozentrismus ist, in dessen Folge der Mensch dem Tier keine ethische Relevanz zugesteht. Es geht in „Das Turiner Pferd“ vielmehr um das Hadern des Menschen mit der Bürde des Menschseins, denn selbst untereinander begegnen sich Vater und Tochter mit einem Ausdruck reiner Funktionalität. Vielleicht noch mehr als dem Tier gegenüber.
In den folgenden sechs Akten, mit denen sechs aufeinander folgende Tage gezählt werden, untermauern Béla Tarr und Ágnes Hranitzky diese Quintessenz mit dem Ablauf einer klassischen Tragödie, indem sie permanente Wiederholung in Gang setzen. Tag für Tag wird der Betrachter Zeuge der immer gleichen Routine: Eimer werden zum Brunnen geschleppt, um Wasser zu holen. Wasser wird ins Haus gebracht, um Wäsche zu waschen und Kartoffeln zu kochen. Die gekochten Kartoffeln werden dampfend auf Holztellern serviert, um dort zügig mit der Hand gepellt, zerquetscht und zum Mund geführt zu werden. Ein Kreislauf der Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Wir beobachten diese Abläufe in aller gebührenden Gründlichkeit. Beim Wasserholen nehmen wir das Gewicht der Wassereimer wahr, auch weil der gesamte Weg in unserer Begleitung abgelaufen wird und das Gewicht kraft der tickenden Zeit zu wirken beginnt. Wir warten in der unmittelbaren Nähe, wenn zwei gefüllte Eimer aus dem Brunnen gehoben und auf die mitgeschleppten Eimer aufgeteilt werden. Helfen können wir nicht. Gerne würden wir auf dem Rückweg die Tür zum Haus aufhalten, doch die Wasserträgerin muss die Eimer abstellen und diesen Handgriff selbst erledigen.
Zum Essen ruft sie ihren Vater immer mit derselben Vokabel: „Fertig“. Tischgespräche gibt es keine; beim Verzehr der dampfenden Kartoffel bleiben wir dennoch bis zum letzten Bissen Gast am Tisch. Anschließend setzt sich der Vater ans Fenster, um in die Leere zu starren, während seine Tochter die Teller spült. Sie wird ebenfalls aus dem Fenster starren, aber zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ihr Vater einer anderen Tätigkeit nachgeht.
Die Figuren sind eingekesselt von ihren eigenen Tagesabläufen, Gefangene ihrer selbst erzeugten Routinen. Das wird spätestens deutlich, als am zweiten Tag alles von Neuem beginnt. Schwere Ketten sind um die Glieder derer gelegt, die hier das einfache Landvolk repräsentieren im Bestreben, die Grundvoraussetzungen nackter Existenz zu erfüllen. Unerbittlich bleiben Tarr und Hranitzky dabei in ihrer Akribie, verdammen den Zuschauer dazu, fast eine Woche lang (in Filmminuten: 150) die Hölle der Wiederholung durchzustehen. Was eine Herausforderung darstellt, der man sich bei Tarrs Arbeiten regelmäßig stellen muss; wenn man nach Unterhaltungsmaßstäben urteilt, verstößt die Regie mit einem Durchschnitt von fünf Minuten pro Take gegen alle Maßvorgaben. Doch je länger man dem illustrierten Alltag beiwohnt, desto spürbarer wird der sich verdunkelnde Horizont – und somit ein Ende des ewigen Kreislaufs.
Obwohl an jedem Tag die gleichen Handgriffe gezeigt werden, so doch immer aus einer anderen Perspektive. Die Regie erlaubt es sich, durch die bewusste Wahl des Winkels eine gewisse Position einzunehmen und Veränderungen anzudeuten. Wie schon die agile Kamera in der ersten Szene wird beispielsweise auch der Brunnen oder der Speisetisch an jedem Tag mit einem anderen Fokus versehen, während andere Einstellungen bewusst 1:1 rekonstruiert werden. Ähnliches geschieht auf musikalischer Ebene: Schon die ersten Minuten sind mit einem tristen, monotonen Motiv verhangen, das sich wie ein pulsierender Schmerz im Laufe der Tage und Tageszeiten immer wieder selbst in Erinnerung beruft. Kehrt es zurück und verdrängt die Stille, dann wie ein plötzlicher Anfall von Depression, als würde man mitten in der Routine daran erinnert werden, dass etwas Dunkles am Ende der Linie kauert.
Der Vorwurf der Redundanz ist hier schnell erhoben. Wozu unzählige Male in aller Ausführlichkeit das Gleiche zeigen, wo eine einfache Montage binnen zehn Minuten die gleiche Aussage treffen könnte? Tarr / Hranitzky wissen jedoch die vermeintliche Ereignislosigkeit auf eine selten gesehene Weise mit treffsicher ausgewählten Symbolen und anderen Bedeutungsträgern anzureichern, so dass jede Einstellung auf ihre Weise eine Besonderheit darstellt. In der Mimik und Gestik eines jeden Moments wird ebenso viel Ertrag versprochen wie im zugehörigen Szenenbild. Jede Bewegung sitzt, in jeder Entscheidung, die auf Drehbuch- oder Regie-Ebene getroffen wird, steckt ein Funken Wahrheit, der nicht mit dem Rotstrich herausgehoben werden muss, um Wirkung zu entfalten. Im nicht gezeigten oder gesprochenen Akt gilt das sogar noch mehr als im Sicht- oder Hörbaren: Meist sind es die dunklen Winkel in Haus und Stall, mit denen die Geschichte erzählt wird, die scharfen Kontraste des Schwarzweißbildes beim Öffnen der Haustür oder der langsame Fade-In, der erst nach und nach das Set ausleuchtet. Oder eben die fehlende Interaktion zwischen Vater und Tochter, die sich bei der Arbeit zwar automatisch synchronisieren, ihre grundsätzlich identische Weltsicht jedoch als private Kuppel anlegen, ohne Einbezug des Gegenübers.
Die letzte Einstellung vor dem Abspann ist dann als Konsequenz des bis dato Erlebten zu verstehen. Sie setzt einen brillanten Schlusspunkt inmitten absoluter Finsternis, einen Moment, in dem sich die unausweichliche Katastrophe aus der Dramaturgie schält, ohne dazu ein Crescendo in die Wege leiten zu müssen. Erst in der Rückschau werden als Lohn für die Mühen der vergangenen zweieinhalb Stunden all die Feinheiten freigelegt, die diesen Film zu einer so außergewöhnlichen Erfahrung machen.
Natürlich wurde die Piazza Carignano nie wirklich verlassen. Nietzsches Lehren sind der Schlüssel ins Innere des „Turiner Pferds“. Ein Nachbar, der zur Filmmitte vorbeischaut, um dem Bauern eine Flasche Pálinka abzukaufen, berichtet von der Zerstörung der Stadt und verweist auf Gott und die Menschen gleichermaßen. Beschrieben wird eine biblische Apokalypse, womit alle Zeichen darauf deuten, dass die hier präsentierten sechs Kapitel (aka sechs Tage) die Schöpfungsgeschichte umkehren sollen. Es werde Dunkelnheit. Spätestens jetzt schallt Nietzsches Echo durch das Mauerwerk, provokant verkündend, Gott sei tot und wir seien die Mörder.
Das Pferd selbst, es ist am Ende doch wieder Bedeutungsträger, schleppt seine Symbollast unter Anstrengung hinter sich her wie den Karren in der Auftaktszene, ohne sich der Bedeutung seines Agierens bewusst zu sein. Die Geschichte über das Pferd von Turin ist am Ende wieder eine Geschichte über den Menschen, weil es Menschen sind, die sie erzählen. Aber dieser Erzählung ist es gelungen, die minutiöse Widersprüchlichkeit existenziellen Daseins bis zur Schmerzgrenze spürbar zu machen, so wie es zumindest nur wenigen anderen Filmen gelungen ist. Denn sie fürchtet sich nicht, die Grenzen des Mediums zu sprengen.
Informationen zur Veröffentlichung von “Das Turiner Pferd”
httpv://www.youtube.com/watch?v=ZNkN_xCXozw
Béla Tarr scheint für den deutschen Markt ein rotes Tuch zu sein; kein einziges seiner bisweilen filmhistorisch äußerst bedeutsamen Werke wurde hierzulande auf DVD, geschweige denn auf Blu-ray veröffentlicht. Auch “Das Turiner Pferd”, sein bisher letzter und vielleicht bekanntester Spielfilm, macht hier keine Ausnahme. Obwohl sich Actionfreunde beim Rückblick ins Jahr 2011 eher an Kaliber der Marke “The Raid” oder “Fast Five” erinnern, wollen wir an dieser Stelle noch einmal über den Tellerrand blicken und auf diese Lücke aufmerksam machen – denn was wäre Action ohne Gegengewichte wie dieses?
Die Besprechung entstand auf Grundlage der britischen Blu-ray von Artificial Eye. Diese zeigt den Film in 1,66:1 Schwarzweißbild mit dem Originalton in 2.0-Mono und optionalen englischen Untertiteln. Da im Film nur wenig gesprochen wird (überwiegend Ungarisch, ein einzelner Satz auf Deutsch), dürfte die fehlende Synchronisation kaum eine Hürde darstellen.
Abgesehen vom Hauptfilm enthält die Disc noch den 12-minütigen Kurzfilm “Hotel Magnezit”, den Béla Tarr 1978 drehte. Dieser liegt in Standardauflösung vor.
Bei der Hülle handelt es sich um eine handelsübliche Amaray mit dünnem Spine.
Bleibt zu hoffen, dass noch mehr Werke des Regisseurs auf Blu-ray veröffentlicht werden, und sei es nur im Ausland. Immerhin: Tarrs monumentales Siebeneinhalb-Stunden-Epos “Sátántangó” folgte am 27. April – wiederum über Artificial Eye. Der Anfang ist gemacht.
Sascha Ganser (Vince)
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