Originaltitel: La Leggenda del santo bevitore__Herstellungsland: Frankreich / Italien__Erscheinungsjahr: 1988__Regie: Ermanno Olmi__Darsteller: Rutger Hauer, Anthony Quayle, Sandrine Dumas, Dominique Pinon, Sophie Segalen, Cécile Paoli, Jean-Maurice Chanet, Joseph De Medina, Francesco Aldighieri, Françoise Pinkwasser, Joséphine Lecaille, Maria Mazzocco u.a. |
Der Herbst erblüht in der zweiten Adaption von Joseph Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ in allen Facetten. Die Beleuchtung akzentuiert die individuelle farbliche Gestaltung von Restaurants, Bars und Hotelräumen und lässt sie allesamt zu einzigartigen Schmuckstücken werden. Wände in Türkis, Aubergine oder Ocker sorgen für das spezielle Ambiente einer jeden Szenerie, zarte, unaufdringliche Muster in Tisch- und Stuhlform prägen sich ein. Holzbalken an der Wand führen zu milchigen Fenstern, durch die matt das Sonnenlicht dringt; manchmal kommt auch der Regen, er prasselt dann auf die Dächer und dringt über die Türschwelle. Menschen gehören in diesen bildhübschen Panoramen zum Ambiente, sie sind autonome Ausstattungsgegenstände, die ihren Routinen nachgehen und dabei still ihren privaten Gedanken nachhängen. Keine Urteile gegenüber der Umgebung gehen von ihren Blicken aus, nicht einmal, wenn ein Trinker die Szenerie betritt. Ihr Wesen besteht lediglich darin, Dienstleistung und Kundschaft zu verkörpern, sie sind wertneutrale Bestandteile einer unaufdringlich schillernden Idylle, die eben nicht nur aus Landschaft, sondern auch aus menschlicher Gesellschaft besteht.
Man kann aus Ermanno Olmis nüchterner Beobachtung des Pariser Alltags viel Romantik ziehen, gerade weil die Schönheit der Eindrücke sich nur latent verbreitet und vor dem weniger aufmerksamen Auge womöglich verborgen bleibt. Zweifellos reflektiert sich im herbstlichen, entschleunigten Ambiente auch der einfache Inhalt der Geschichte. Eines morgens lenkt das Wasser der Seine das aufsteigende Sonnenlicht unter die Winkel der Brücke, so dass die morgendlichen Strahlenbüschel sogar Andreas Kartack (Rutger Hauer) erreichen, einen obdachlosen Trinker und die Hauptfigur in einer Abfolge von Chancen und verstrichenen Gelegenheiten, die mit den wichtigsten Parametern ökonomischen Erfolgs im Zusammenhang stehen: Zeit und Geld.
Nachdem sich der Obdachlose anfangs noch vor dem Licht versteckt mit dem Zeitungspapier, das ihn nachts warm hält, öffnet er sich bald den Geschenken, die ihm in einer Folge unwahrscheinlicher Ereignisse widerfahren. Ein Fremder vertraut ihm am Treppenabsatz bei seiner Brücke 200 Francs an, mit denen er einen Neuanfang wagen soll. Er muss dafür nur versprechen, das Geld der örtlichen Kirche zu stiften, sobald er es sich leisten kann. Dies ist der Beginn einer Legende, in deren Verlauf sich die Gelegenheiten weltlicher Reintegration mit göttlichen Wundern vermengen, in denen sich Laster aus der Asche heben und die Würde eines Gefallenen auf den Prüfstand gestellt wird.
Wer hätte einen Mann vor einer solchen Herausforderung überzeugender spielen können als Rutger Hauer (“Blade Runner“). Seine stahlblauen Augen bilden von der ersten Portrait-Aufnahme an rot umrandet das weit geöffnete Fenster zu einer geschundenen Seele. Stolz und Würde bäumen sich darin auf, als ihm zum ersten Mal das Unerwartete widerfährt. Zögernd, letztlich aber voller Aufrichtigkeit nimmt er das Geld an sich. Im gleichen Moment färbt der Herbst den Anstrich des Stadt in ein traumhaftes, optimistisches Farbenspiel. Alles, so suggeriert es die Euphorie des Moments, kann sich in diesem Moment ändern. Gebete wurden erhört.
Die folgenden Kapitel erzählen von unscheinbaren, eben nebensächlichen Privilegien des neu gewonnenen zivilisierten Daseins, das vom Protagonisten mit einem dankbaren Lächeln auf dem Gesicht ausgekostet wird. Eine warme Mahlzeit im Bistro. Eine frische Rasur beim Barbier. Endlich wieder wie ein Mensch fühlen – wie einer von den anderen im gleichen Raum. Es sind nicht die speziellen Bedürfnisse eines Süchtigen, die Olmi hier dokumentiert, sondern solche von primärer Dringlichkeit. Denn noch während das vermeintlich harmlose erste Glas Wein zur Mahlzeit bestellt wird, entwickeln sich die Dinge anderweitig in die richtige Richtung. Das soziale Gefüge regeneriert sich, der gesellschaftliche Stand scheint bald wieder intakt zu sein – so sehr, dass sich dadurch automatisch neue Chancen ergeben und schwer zu sagen ist, was der tatsächliche Ursprung des gehäuften Glücks sein mag und womit der Glückliche es verdient hat. Auf einmal findet sich Andreas mit einer früheren Geliebten wieder vereint, eine Verbindung, die er zunächst voller Dankbarkeit annimmt, obwohl sie mit einer schmerzhaften Erinnerung verbunden ist. Er verfügt bald über einen gewissen Luxus in der Wahl seiner Entscheidungen, der es ihm sogar erlaubt, die Geliebte bald wieder in den Wind zu schlagen, um mit einer Jüngeren in einem Hotelzimmer anzubandeln. Und während sich die Montagen getrunkener Rotweingläser sukzessive anhäufen, droht die von glücklichen Geldspritzen angetriebene Erfolgsgeschichte wieder zu kollabieren.
Schaut in eine Szene aus “Die Legende vom heiligen Trinker”
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Was wie ein typisches Drama von Aufstieg und Fall klingt, hat damit allenfalls den Verlauf gemein, keineswegs jedoch die Akzentuierung. Schon die leichtfüßigen Klänge der Klarinette aus Stravinskys kompositorischem Fundus lassen den Sprung von einem Glas zum nächsten einfach und unkompliziert wirken. Ihre beruhigende Wirkung bleibt eine Konstante, was zugegeben zu mancher Dissonanz zwischen Bild und Ton führt, doch der Abrutsch in dramaturgische Stereotype wird mit dieser unorthodoxen Auswahl verhindert. Dem Regisseur gelingt es durch seine zurückhaltende Inszenierung derweil, ein unsichtbares Band zwischen religiösem und gesellschaftlichem Zugehörigkeitswunsch zu knüpfen, obwohl er gezwungen ist, sich dazu plakativer Symbole zu bedienen. Alkoholismus zur Probe für die Unerschütterlichkeit des Glaubens zu erklären, ist ein nicht gerade selten gebrauchtes Motiv, selbst wenn man die Sucht als eher medizinisches Problem betrachtet. Um so bemerkenswerter ist es, mit welch nüchternem Blick Olmi die Perspektive eines nicht allzu nüchternen Menschen einzunehmen vermag, dessen Wertesystem an der jeweiligen Situation zu hängen scheint: Je auswegloser die Situation des Menschen, desto dankbarer sein Wesen, desto genügsamer seine Wünsche, desto fester sein Glaube.
Obgleich Autor Joseph Roth mit der Vorlage auch seinen eigenen Alkoholismus reflektierte, so lässt sich die Geschichte durch die Spiralstruktur mit ihren vielen ähnlichen, sich wiederholenden Episoden auch sehr gut auf die Charakterschwächen des Menschen im Gesamten generalisieren. Olmi seziert das Bedürfnis nach Routine und Geborgenheit, das nicht selten selbstzerstörerische Tendenzen aufweist. Hauers Make-Up und die Wetterbedingungen fungieren als Indikatoren dafür, dass die Spirale sukzessive nach unten führt, obwohl von Szene zu Szene kaum Unterschiede auszumachen sind. Die Hauptfigur ist sich der Entwicklung durchaus bewusst, doch wird die nahende Erkenntnis nicht etwa in einem zentralen Punkt ausbuchstabiert, sondern immer wieder nach hinten gedrängt; auch findet niemals eine Plotwende statt, mit der sich der drohende Untergang verhindern ließe.
Abgesehen von der intimen Vorlage, der behutsamen Regie und der vortrefflichen Kamera sorgt eben vor allem der Hauptdarsteller für das Gelingen dieses schweren Balanceakts. Rutger Hauer deckt das vollständige Spektrum emotionaler Bandbreite ab, während er eine Figur zu meistern hat, deren Perspektiven sich in jeder neuen Sequenz fließend verändern. Diese Tour de Force des emotionalen Wandels dabei nicht zur Maskerade geraten zu lassen, sondern der Unscheinbarkeit der vom Regisseur genutzten Bildsprache zu unterwerfen, ist ein Meisterstück, insbesondere wenn man bedenkt, wie viel extrovertierter er ähnlich herausfordernde Rollen in seinen Frühwerken unter Verhoeven oder auch in seinen Kult- und Paraderollen interpretiert hat. In Nebenrollen überzeugen unter anderem Jean-Pierre Jeunets Stammschauspieler Dominique Pinon (“Alien – Die Wiedergeburt“) als alter Freund und Sandrine Dumas als ehemalige Geliebte, deren Rückblenden- und Gegenwartsform wie zwei unterschiedliche Menschen wirken.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ ist kein Film der moralischen Lehre oder bedeutsam in Szene gesetzter Gesten von Nächstenliebe. Auch als das Drama, das er ist, kümmert er sich nicht um Gefühlsausbrüche oder walzendes Pathos. Es ist ein Film, den man am besten in den Übergangstagen zwischen den Extremen von Sommer und Winter genießt, wenn auch die Welt außerhalb der Leinwand im Wandel begriffen ist. Dann nämlich erscheint der Baum der Möglichkeiten mit seinen sprießenden Ästen in einem kristallklaren Realismus, der trotz der poetischen Bilder und der erschlagenden Bedeutungsträger „Kirche“ und „Gesellschaft“ unter Olmis Regie jederzeit mit den Händen greifbar ist.
Informationen zur Veröffentlichung von “Die Legende vom heiligen Trinker”
Im Jahr 1996 feierte „Die Legende vom heiligen Trinker“ Premiere im deutschen Fernsehen. Vermutlich entstand zu jener Zeit auch die deutsche Synchronisation. Einige Zeit später folgte eine VHS von Arthaus / Studiokanal, bevor der Film erst 2016 den Sprung auf DVD schaffte. Diese Rezension basiert auf dem britischen Blu-ray/DVD-Set vom Label Arrow Academy. Der Film wurde exklusiv für diesen Release neu vom Originalnegativ abgetestet und in 4K-Auflösung restauriert. Herausgekommen ist bei dem Unternehmen eine absolut brillante Bildqualität, die ein dezentes, aber prachtvolles Farbenspiel vor malerischer Kulisse erlaubt. Einige Extras haben es auch auf die Veröffentlichung geschafft, darunter eines mit Drehbuchautor Tullio Kezich und ein weiteres mit Hauptdarsteller Rutger Hauer, das ebenfalls eigens für diesen Release im Jahr 2017 aufgenommen wurde. Ein 20-seitiges Booklet mit einem Essay von Helen Chambers und weiteren Details zur Restauration befindet sich ebenfalls in der Erstauflage.
Bildergalerie
Sascha Ganser (Vince)
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