Originaltitel: Fehérlófia__Herstellungsland: Ungarn__Erscheinungsjahr: 1981__Regie: Marcell Jankovics__Darsteller: n.a. |
Märchen und Volksmythen stiften nationale Identität und schaffen ein Bewusstsein für die Geschichte der landeseigenen Kultur. Sie erhalten sich, indem sie Generation um Generation weitervererbt werden. Dabei sind sie einem fließenden Wandel ausgesetzt, der sich schon durch die Evolution der Kommunikationsmedien ergibt; aber auch aus der gesellschaftlich-politischen Situation des Landes.
Aber liegt darin nicht ein Widerspruch begraben? Wie kann Folklore weiter die Generationen einer Kultur verbinden, wenn die sich wandelnden Medien und die sich wandelnden Zeiten so starken Einfluss auf ihre Form nehmen? In dieser Frage ist der ungarische Trickfilm „Sohn der weissen Stute“ ein besonders faszinierendes Anschauungsobjekt, weil er seine schlichte, konservativ gefärbte Narration in einen Kontrast zu unorthodox-experimentellen Trickanimationen setzt.
Die Macht der Bilder
Bevor die Sprecher die Gelegenheit bekommen, mit hallendem Timbre im Stile eines Märchenerzählers die abstrakten visuellen Eindrücke zu begleiten, ist man mit den ersten Bildern zunächst alleine gelassen. Scharfkantige, schwarze Körper der Geometrie schieben sich vor und zurück wie verklebte Augenlider. Sie eröffnen die Bühne, hinter ihnen schäumen gewundene, weiche Kreisel in satten Farben auf, die im Rausch der nächsten 80 Minuten permanent ihre Form verändern werden. Das Schwarz wird man hier, anders als beim herkömmlichen Trickfilm, immer nur in Gestalt schwarzer Objekte sehen – zum Hervorheben von Linien und Konturen wird es nicht eingesetzt. Vorder- und Hintergrund haben dadurch weniger Kontrast zur Verfügung, um sich voneinander abzuheben, was die Betonung auf das Zweidimensionale legt, zumal wenig mit Helligkeitsübergängen oder Strukturen gearbeitet wird, sondern mehr mit der Anordnung unterschiedlich geformter Flächen, die zumeist ebenmäßig eingefärbt sind oder allenfalls die Schichtmuster verlaufener Wasserfarbe aufweisen. Letztlich fühlt sich „Sohn der weissen Stute“ so an wie ein zwischen Ex- und Impressionismus springendes Gemälde, das stetig seine Linien verschiebt oder dessen Farbe abblättert, um die nächste Schicht darunter freizugeben. Bildlich gesprochen: Die Seiten werden umgeblättert.
Hinter dem Schwarz tritt nun also eine weiße Stute hervor, die nacheinander drei Söhne gebiert, welche sich durch den metamorphen Stil der Bilder binnen Sekunden in Menschenkinder verwandeln. Baumausreißer, das Jüngste, wird die Haupt- und damit die Heldenrolle einnehmen, nicht jedoch, ohne nach griechischem Vorbild zunächst Prüfungen gegen die älteren Brüder Steinzerbrösler und Eisenkneter zu bestehen. Schließlich raufen sich die Brüder zusammen und knüpfen gemeinsam ein Seil, um in der Unterwelt drei in Zwangsehe verharrende Prinzessinnen aus den Klauen ihrer Gatten zu befreien, bei denen es sich dummerweise um mächtige Drachen handelt…
Es war einmal… in Ungarn
Konform mit dem Regelbuch für Märchen wird die Zahl 3 ebenso wie die 7 und die 12 eine zentrale inhaltliche Bedeutung einnehmen, die sich auch in der Bildgestaltung spiegelt: In Triptychen werden Sachverhalte direkt miteinander in einen Bezug gesetzt. Zumeist sind es auch bis zu drei primäre Farben, die jeweils die Stimmung einer Szene prägen. Ferner wird mit Dualität gearbeitet, die für Gut und Böse steht: Äste und Wurzeln, das Weiß des Himmels und das Schwarz des dunklen Lochs, in dem die Drachen hausen. Es ist praktisch eine vertikale Erzählung, denn die Reise führt weniger nach dem Vorbild einer klassischen Odyssee von links nach rechts, sondern vielmehr gemäß „Dantes Inferno“ weit nach unten in das, was dem traditionellen Bild einer Hölle gleichkommt.
Selbst heute, nachdem wohl jede vorstellbare Art handgezeichneter Animation ausgeleuchtet und größtenteils von der dreidimensionalen Computeranimation verdrängt wurde, ist die Sogwirkung von „Sohn der weissen Stute“ beispiellos. Man wird allerdings nicht von Sinneseindrücken erschlagen wie etwa in einem modernen Hi-Tech-Anime; die Klarheit der Struktur und die reduzierte, beinah abstrakte Darstellung von Körper und Gesicht erlaubt ein großes Maß an Übersicht und einen direkten Zugang zur emotionalen Komponente. Auf dieser Ebene findet durchaus eine harmonische Verknüpfung zwischen Inhalt und Darstellung statt. Jedoch sind es allein die Animatoren, die das Tempo vorgeben, indem sie unentwegt eine Situation aus der anderen sprießen lassen. Oberflächen jedweder Art reagieren empfindlich auf die Berührung durch die Hand der Agierenden, so dass es scheint, als wenn ihre Gedanken sich sensorisch auf ihre Umwelt übertrügen, die anschließend ihre Form ändert – im Grunde wie in einem Traum, wo jeder Raum ein instabiles Konstrukt ist, das immerzu von einer neuen Situation verdrängt werden kann. Die Gedanken der Erschaffer ergießen sich sprichwörtlich in Echtzeit auf das Papier.
Schaut in den Trailer
httpv://www.youtube.com/watch?v=upg1azSqprA
Im Kontrast zur psychedelischen Natur der Animation steht die kristallklare Symbolik, die sich aus ihrer Form ergibt. Äpfel, Schlösser, Schwerter stehen als interaktive Objekte den Protagonisten zur Verfügung und sind die bildliche Entsprechung für Entitäten wie Fruchtbarkeit, Macht und Potenz, für Sehnsüchte und Ziele, Zustände und Pläne. Die Kompatibilität mit modernen Variationen der Mythologie auch aus anderen Kulturkreisen ist erschlagend: Bedient sich nicht auch Videospielheld Mario diverser Symbole wie Münzen und Pilze, um eine Prinzessin aus den Klauen eines Unholds zu befreien? Die Statur des Baumausreißers ähnelt allerdings keinem italoamerikanischen Klempner, sondern einem griechischen Athleten. Durch seine wuchtige Masse und den oft in Aufsicht gefilmten Blick auf seine Statur erlebt „Held Janos“ (1973) quasi eine Reinkarnation. Der Eisenkneter wiederum ist an sowjetische Kraftbündel angelehnt, ebenso wie die aus der Frontalen betrachtet kugelrunden Mondgesichter mit roten Bäckchen, deren Akzente aber wiederum Elemente aus dem asiatischen Kulturkreis beinhalten und zugleich aus christlich geprägter Glasmalerei. Im Seitenprofil glaubt man sogar die eckigen Konturen altägyptischer Malerei wiederzuerkennen, die manchmal aus dem sanften Strom der organischen Linien als Widerhaken hervortreten. Es steckt eine enorme Fülle an kulturellen Einflüssen in den schlichten Farbflächen, in ihrer Bewegung und der Art ihres Zusammenspiels, doch vieles davon scheint im Endeffekt auf global verständliche Muster hinauszulaufen.
Im Zeichen des Gulaschkommunismus
Wenn man etwas typisch Ungarisches in „Sohn der weissen Stute“ finden will, dann ist es vielleicht seine Ambivalenz im Zusammenspiel von Inhalt, Subtext und Oberfläche. Trickfilme galten in Mittel- und Osteuropa zur Entstehungszeit immer noch hauptsächlich als Unterhaltungsware für Kinder, obwohl gerade die Kurzfilme und Cartoons der 60er und 70er Jahre im Zuge der gewonnenen Freiheiten durch den liberalisierten Gulaschkommunismus die gesellschaftliche Realität aufgriffen und satirisch verarbeiteten, wozu auch Marcell Jankovics gewichtige Beiträge leistete, etwa mit der Serie „Gustav“ (1964 – 1977), die sich mit ihren Alltagsthemen vor allem an Erwachsene richtete.
1981 war es aber eben immer noch der Kinderfilm „Vuk – Der kleine Fuchs“, der mit einer stark an den Disney-Fuchs aus „Cap und Capper“ (ebenfalls 1981) erinnernden Hauptfigur für das produzierende Studio Pannonia der größte kommerzielle Erfolg wurde. Über Jankovics’ ambitioniertes, inhaltlich aber rückwärtsgewandtes Märchen aus dem gleichen Jahr urteilte die zeitgenössische Kritik, ausbleibender Erfolg sei vorprogrammiert, weil weder die Zielgruppe der Kinder noch der Erwachsenen direkt angesprochen werde. Gerade dies lässt seinen Film rückblickend aber interessant erscheinen, weil er wie ein Spiegel der ungarischen Position im Klammergriff des Sozialismus funktioniert. Als mitteleuropäisches Land, das man gerade noch zum Ostblock zählen konnte, spürte Ungarn die Kälte des Eisernen Vorhangs schließlich unmittelbar. Obgleich man zu jenem Zeitpunkt bereits seit rund zwanzig Jahren Lockerungen genoss, hatte Jankovics immer noch dem Diktat des Sozialismus zu folgen und musste sich in gewissen Aspekten mit der Zensur arrangieren. Das spürt man eben auch an der merkwürdig altbackenen Narration, die wesentlich regressiver wirkt als das, was man sich in der TV-Landschaft traute.
Symbole, Flächen und Farben: Die Artikulation von “Sohn der weissen Stute”
Aber Jankovics nutzt die Animation selbst sowie die darin verschlüsselten Symbole als Sprachrohr. Dass sich „Sohn der weissen Stute“ nämlich trotz der Schildtreue gegenüber traditioneller Erzählung gar nicht so sehr wie ein traditionelles Märchen anfühlt, hat mit der massiven Dissonanz zwischen dem Gesprochenen und Gezeigten zu tun. Das führt so weit, dass man beinahe schon von Asynchronität sprechen möchte. Was alleine in der sexuellen Darstellung nach außen gekehrt wird, hat nicht mehr viel mit einem Märchen im ursprünglichen Sinne zu tun: Die Geburt des Helden erlebt man durch die ovale Rundung einer vaginalen Öffnung, Berge und Täler erweisen sich aus der Ferne betrachtet als geöffnete Schenkel, die erste Prinzessin präsentiert all ihre Geschlechtsmerkmale in Form blumiger Verzierungen, der Held trägt sein Schwert wie einen gigantischen Phallus vor sich her (mit einem Farbverlauf, der suggeriert, dass das Schwert eins ist mit dem Körper), der voluminöse Drachen (in der mittleren Inkarnation eher eine klobige Dampfapparatur und somit eher ein Repräsentant der Maschinenindustrie als ein Reptil im mythologischen Sinne) schleppt sich mit O-Beinen zum Schlachtfeld und lässt dabei auffällig sein Gehänge baumeln. Archetypen werden etabliert, um anschließend provokativ an ihrer Silhouette zu rupfen. Anfang, Mittelteil und Ende mögen sich konform zur Legende verhalten, doch zugleich hat man das Gefühl, es werde etwas anderes gemeint als gesagt.
Aber selbst ohne diese Subtexte bleibt der Rausch der verschmelzenden Farben und Formen ein einzigartiges Erlebnis. Der eigentlich leicht verständliche Kapitel-Aufbau wird zwar ebenfalls Opfer der Verschmelzung bzw. Zweidimensionierung, was möglicherweise zu dramaturgischen Längen führt; die Animationstechnik von „Sohn der weissen Stute“ ist aber so verzehrend, dass sie 80 Minuten am Stück zu hypnotisieren vermag, ob man nun zur jüngeren Fraktion gehört oder nicht. Ein Kunststück, das nur den besonderen Zeichentrickfilmen gegeben ist.
Informationen zur Veröffentlichung von “Sohn der weissen Stute”
Drop Out 038
Über dem endlosen Regenbogen des Weltkinos begibt sich das Label Bildstörung (“Komm und sieh“) mal wieder in den Sturzflug und landet einmal mehr in einer längst verwaisten Nische, um verlorene Schätze zu bergen. Mit dem „DropOut #38“ verschlägt es uns diesmal in die unbekannte Welt des ungarischen Trickfilms. Wie üblich geht es dabei nicht darum, nur den Edelstein aus dem Erdreich zu reißen, um ihn aufzupolieren und zum Verkauf anzubieten; es geht darum, mit ihm auch die umliegende Erde zu bergen.
Bedauerlich ist es daher, dass Marcell Jankovics’ ungewöhnlicher Trickfilm im Rahmen dieser 2-Disc-Edition nicht vom Vorgängerwerk „Held Janos“ begleitet wird, handelt es sich bei diesem Langfilm-Debüt des ungarischen Animatoren doch nicht nur um einen direkten Einfluss für das Folgewerk, sondern zugleich um den ersten ungarischen Animationsfilm in Spielfilmlänge. Auf der ebenfalls demnächst erscheinenden Blu-ray-Edition des amerikanischen Arthaus-Labels Arbelos wird er jedenfalls vertreten sein. Dass deren Release jedoch auf gerade mal 1.000 Stück limitiert sein wird, spricht bei einem Land mit immerhin über 300 Millionen Einwohnern Bände darüber, wie viel Interesse am ungarischen Trickfilm zu bestehen scheint. Mit großer Verbreitung ist da jedenfalls nicht viel. Und ob nun Bildstörung in unseren Breitengraden zweimal hintereinander in den gleichen Honigtopf greift, bleibt fraglich, da immer sehr viel Abwechslung im DropOut-Kalender geboten wurde. Bleibt eben trotzdem zu hoffen, dass auch „Held Janos“ irgendwann in der ein oder anderen Fassung den Weg zu uns findet.
Aber es ist nun nicht so, dass der „Sohn der weissen Stute“ ganz nackt in Deutschland landet. Auch ohne „Held Janos“ als Unterstützung im Gepäck wurde hier wieder ein sattes Paket geschnürt, dank der gewohnt prächtigen Präsentation und der teils exklusiven Ausstattung unter Mitwirkung des Regisseurs.
Interview mit Marcell Jankovics
Die Bonus-DVD hat nämlich ein exklusiv vom Label produziertes Interview mit Marcell Jankovics (ca. 38 Min.) zu bieten, in dem er seinen Werdegang begonnen bei der Kindheit nachzeichnet und versucht, sein eigenes Werk einzuordnen. „Schon als Kind habe ich gerne gezeichnet“… mit diesem Satz, den wohl fast jeder Zeichner mal irgendwann an sein Publikum gerichtet hat, nicht dazu in der Lage, die Motivation oder Gabe anders zu erklären als mit Veranlagung, beginnt eine durchaus aufschlussreiche Tauchfahrt in die Vergangenheit des Zeichners, der über Möglichkeiten und Methoden, Gelegenheiten und Präferenzen spricht und dabei stets die Kollegen um sich herum wahrnimmt – als sei er selbst ein Klecks in einem bunten Farbtopf, der gerade durch die Mischung so harmonisch wirkt.
Aber damit wir nicht ganz auf Jankovics’ Selbstbeschreibung angewiesen sind, bekommen wir auch noch zwei seiner Kurzfilme serviert, die zwischen seinen ersten beiden Langfilmen entstanden. Die messen zwar gemeinsam kaum 5 Minuten, aber wer will Kunst schon mit Zeit aufwiegen?
Sisyphus
Originaltitel: Sisyphus__Herstellungsland: Ungarn__Erscheinungsjahr: 1974__Regie: Marcell Jankovics__Darsteller: n.a. |
Nachdem mit „Held Janos“ 1973 der erste ungarische Zeichentrick in Spielfilmlänge vollendet war, sah das Produktionsstudio noch ein minimales Restbudget für einen Kurzfilm und trug Marcell Jankovics die Aufgabe zu, ihn zu realisieren. Zwei Minuten mögen in Echtzeit wie ein Wimpernschlag vergehen, doch der Zeichner lässt in 1600 Einzelbildern einen Eindruck von Ewigkeit entstehen, wie man ihn eben empfinden muss, wenn man versucht, die Brücke zwischen einer Dreizehntelsekunde und der nächsten zu finden – wieder und wieder und wieder.
Inhaltlich offensichtlich an die gleichnamige Legende aus der griechischen Mythologie angelehnt, lässt sich aus „Sisyphus“ nicht viel inhaltliche Tiefe ziehen. Die teils mit anatomisch-rudimentärem, teils schwunghaft-abstraktem Tuschestrich zum Leben erweckte Animation zeigt einen nackten, muskulösen Mann, der unter dem Stöhnen des Erschöpfungsschmerzes einen immer größer werdenden Stein einen Berg hinaufrollt. Anders als in der Legende bleibt der Stein jedoch symmetrisch exakt auf der Spitze des Berges liegen, der sich bei der Rückfahrt der Kamera als ein Haufen weiterer Steine entpuppt. Das Ende der Wiederholung.
Nach der Gemeinschaftsarbeit von „Held Janos“, die ein abendfüllender Animationsfilm schon fast zwangsläufig sein muss, ist „Sisyphus“ spürbar nur von einer einzelnen treibenden Kraft beseelt. Niemand anders ist an dem puristischen Zusammenspiel aus Schwarz und Weiß beteiligt als eben Jankovics, der hier in Kleinstarbeit Mühe, aber auch Lohn analoger Animationstechniken illustriert. Am Ende steht ein großer Berg, geschaffen in reiner Handarbeit, während sich der Künstler geschafft, aber zufrieden an den Abstieg macht, um sein Werk aus der Ferne zu betrachten.
Die vom Dicken ins Dünne gleitenden Linien des Tuschefüllers machen den inneren Kampf des Zeichners mit sich selbst greifbar, die Bewegung, die sich aus der Abfolge von Standbildern ergibt, entwickelt schnell eine spielerische Dynamik, die ein enormes Gefühl für Gewicht und Masse entstehen lässt. Auch Härte und Weichheit fließen bis zur Unkenntlichkeit ineinander, kurz vor dem Gipfel sieht man auf dem Papier eigentlich kaum noch mehr als einen geschwungenen Strich, der auch das Zeichen aus einer Sprache sein könnte.
Als Zuschauer hat man die zwei Minuten schnell überwunden und fragt sich womöglich nach dem tieferen Sinn; vielleicht erschließt er sich, wenn man von einem Bild zum nächsten denkt.
Kampf
Originaltitel: Küzdök__Herstellungsland: Ungarn__Erscheinungsjahr: 1977__Regie: Marcell Jankovics__Darsteller: n.a. |
Dieser unzähmbare Fettstift. Im Sommer schmilzt er, im Winter härtet er aus und verliert Deckkraft. Eigener Aussage nach war es seine Widerspenstigkeit, die Marcell Jankovics erst recht dazu motivierte, mit ihm zu experimentieren und seine zwei Seiten gegeneinander antreten zu lassen. So entstand also dieser Kurzfilm über einen Bildhauer, der menschliche Formen in Stein haut, bis ein Ebenbild entstanden ist. Das greift schließlich auch zu Hammer und Meißel und macht sich im Umkehrschluss an seinem Schöpfer, den Bildhauer zu schaffen. Hier noch eine Falte, da noch etwas vom Haar weg… und wie aus dem Nichts verschieben sich die Konturen plötzlich zugunsten des Abbilds, während das Vorbild langsam eingeht…
„Kampf“ ist wahrlich eine Allegorie existenzialistischer Natur, die vor Ausdruckskraft zu platzen droht. In diesem tragikomisch inszenierten Kampf des Künstlers um sein Vermächtnis im Angesicht der verstreichenden Zeit ist bereits jenes universelle Hadern mit der Unausweichlichkeit menschlichen Daseins zu erkennen, das schlussendlich zu Jankovics’ bislang letztem Werk führte, „Die Tragödie des Menschen“ von 2011. Die Polarität zweier sich gegenseitig bearbeitender Teile derselben Medaille haben etwas zutiefst Verzweifeltes an sich, das auf so vielen Ebenen mit dem rätselhaften Los der Sterblichkeit zu tun hat, dass man kaum anders kann als mit schwarzem Humor auf das Ergebnis zu reagieren.
Weiche Schraffuren stoßen hier auf harte Kerben. Der Stift verhält sich tatsächlich wie ein wilder Hengst, der sich jedem Lassowurf des Zeichners mit spöttischem Wiehern entzieht. In Nahaufnahmen werden Rillen in die Struktur geschlagen, die Fasern des Papiers scheinen regelrecht zu leiden. Die Strichführung wirkt manchmal kraftvoll und entschlossen, dann aber wieder schwächlich, während sich langsam die Verhältnisse verschieben – eben ganz so, wie es der holprige Stift gerade für richtig hält. So glaubt der Zeichner das unartige Instrument für seine Zwecke zu instrumentalisieren, doch wer führt hier eigentlich wen?
Eng mit dem Namen Jankovics ist natürlich auch das Animationsstudio verbunden, für das er einen Großteil seiner Arbeiten umgesetzt hat. Insofern ist es eine tolle Nachricht, dass Bildstörung in letzter Minute eine Dokumentation über Pannónia lizensieren konnte.
Pannónia Anno – Geschichte(n) eines Filmstudios
Originaltitel: Pannónia Anno – Fejezetek egy Filmstúdió történetéből__Herstellungsland: Ungarn__Erscheinungsjahr: 1912__Regie: Péter Szalay__Darsteller: Zsolt Richly, Ottó Foky, István Orosz, László Haris, Ferenc Rófusz, György Matolcsy, Béla Vajda, József Gémes, Irén Henrik, Marcell Jankovics, Peter Szoboszlay, István Somfai u.a. |
„Pannónia Anno – Geschichte(n) eines Filmstudios“ klingt wie eine typische Dokumentation über den Aufstieg und Fall eines Unternehmens oder einer Marke, wie sie gelegentlich produziert werden, um ein gesellschaftliches Phänomen begreifbar zu machen. Das Budapester Unternehmen hätte sich für ein solches Vorhaben zweifellos geeignet, wurde es in seiner Blütezeit doch mit den größten und erfolgreichsten Studios der Welt in einem Atemzug genannt. Der 2012 entstandene Film interessiert sich aber erstaunlich wenig für die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Hintergründe, unter denen das Studio Erfolge feierte oder an Einfluss verlor. Stattdessen werden die eigentlichen Protagonisten und ihre Werke in den Mittelpunkt gerückt: Mit Unterstützung von rund 20 ehemaligen Kreativen entsteht so fast beiläufig ein umfassender Abriss der Geschichte des ungarischen Trickfilms.
Zwar verzichtet Regisseur Peter Szálay nicht völlig auf die Wortmeldung sekundärer Beteiligter; so kommen beispielsweise auch Fotograf László Haris, Studiomanager György Matolcsy, Kamerafrau Irén Henrik, Komponist Zsolt Pethö oder Schauspielerin Judit Pogány zu Wort. Der Fokus liegt aber klar auf den Zeichnern, den Kreativen und Handwerkern, die in ihren Interviews jeweils einen sehr subjektiven Rückblick auf ihre Errungenschaften preisgeben, während die Regie passend zur jeweils besprochenen Periode Ausschnitte aus der vielseitigen Animationslandschaft bereitstellt.
Man erkennt schnell, dass sich der ungarische Trickfilm stets vieler internationaler Einflüsse bedient hat. Die Bandbreite an eingesetzten Techniken und die Experimentierfreudigkeit beeindruckt durchaus, insbesondere wenn man sie mit der nüchternen, in einigen Fällen beinahe schon monotonen Art vergleicht, mit denen die Erzähler ohne jede Affektiertheit ihre Anekdoten zum Besten geben. Offenbar entspricht die Individualität auch dem Selbstverständnis der Federführenden, die sich übereinstimmend über die stilistische Abgrenzung zu den Kollegen definieren, die alle ihren ganz eigenen Stil pflegen.
Wer möchte, kann aber natürlich selbst Schlüsse ziehen über die Hintergründe, unter denen die Arbeit in den Pannónia Studios vollzogen wurde. Die Trickfilm-Ausschnitte verraten viel über die kulturelle Prägung ihrer Erschaffer und deuten ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein an. Bevor im letzten Drittel die „neue Schule“ übernimmt, dominiert eindeutig die klassische Denkweise des Handgefertigten, doch selbst das neue Kapitel scheint noch von der Ära des Nicht-Digitalen geprägt.
Leider starben einige der Interviewpartner bereits in den nächsten ein bis zwei Jahren nach Veröffentlichung der Dokumentation; andere wiederum erfreuen sich nach wie vor bester Gesundheit, auch wenn es um die meisten von ihnen ruhig geworden ist – einschließlich Marcell Jankovics, dessen letzter Film nun auch bereits wieder zehn Jahre zurückliegt. Auch die Pannónia Studios sind inzwischen Geschichte. Selbst wenn ihre eigene in „Pannónia Anno“ nicht unbedingt umfassend abgebildet wird, so kann man das zumindest von der Chronologie der künstlerischen Werke behaupten, die unter ihrem Banner entstanden sind.
Das Bild
Unter dem Strich ergibt das eine prall gefüllte Bonus-DVD… die somit auf der Blu-ray genug Platz lässt, den Hauptfilm prachtvoll erstrahlen zu lassen. Zwar handelt es sich nur um eine Single-Layer-Disc, bei einem 80-minütigen Film ohne zusätzliches Bonusmaterial (abgesehen vom Trailer) ist das aber mehr als genug Platz. Der Transfer ermöglicht es dem Zuschauer, direkt in die Welt aus fließenden Farben gezogen zu werden. Die makellosen Flächen ergeben einen wunderschön anzusehenden Tanz geometrischer Formen. Der Verzicht auf Konturierung von Linien könnte sich bei Körnung, Unschärfen oder Kontrastproblemen schnell als problematisch herausstellen, doch davon kann hier nicht die Rede sein. Hier wird jeder einzelne Strich glasklar hervorgehoben, selbst wenn es nur Dunkelblau ist, das sich von Mittelblau abhebt.
Der Ton
Als Audiospur ist der ungarische Originalton in Linear PCM 2.0 Mono aufgespielt. Eine durchaus druckvolle Spur, die mit begrenzten Mitteln ein Maximum herauszuholen weiß. Sprecher, Musik und Effekte unterstreichen die surreale Welt mit hallenden Klängen und einer manchmal regelrecht dadaistischen Kulisse, bei der man eine Surround-Abmischung kaum vermisst, obwohl eine solche die Wirkung der Bilder vermutlich noch einmal verstärkt hätte. Wie beim gesamten Bonusmaterial ist natürlich auch beim Hauptfilm eine optionale deutsche Untertitelspur mit an Bord.
Die Verpackung
Den hohen Verpackungsstandard der Reihe ist man ja ohnehin längst gewohnt und er wird hier nicht gebrochen. Im Gegenteil, „Sohn der weissen Stute“ ist ja ein Füllhorn an Vorlagen für ein spektakuläres Design, jede Filmsekunde böte sich an, auf dem Umschlag, dem Pappschuber, der Scanavo-Außenseite, ihrer Innenseite, der Blu-ray, der DVD oder dem Booklet abgedruckt zu werden. Das Label findet hier eine sehr schöne Mischung puristischer Hintergrundillustrationen, die unglaubliche Lust auf den Film macht.
Das Booklet
Das beigelegte 16-Seiten-Booklet wiederum hat natürlich nicht nur Bilder zu bieten, sondern auch den Text „Lust for Life – Leben in Leidenschaft: Vom epischen Streiten des Baumausreissers“, geschrieben von Professorin Jennifer Lynde Barker, die einen beachtlichen Fundus filmbezogener Publikationen in ihrem Portfolio stehen hat. Ins Deutsche übersetzt wurde der Text, der sich intensiv mit dem Hauptfilm und am Rande auch mit den beiden Kurzfilmen befasst, wunderbar bildhaft von Olaf Möller. Wer nach Filmgenuss Schwierigkeiten hat, die intensiven Bilder zu sortieren, sollte sich unbedingt mit diesem Text befassen – er bietet einen runden Abschluss und lässt einen das Märchenbuch zufrieden zuschlagen.
Sascha Ganser (Vince)
Bildergalerie
Sascha Ganser (Vince)
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Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder/Label: Szenenfotos © 1981 Pannónia Filmstúdió, Poster/Packshots/Verleih Bildstörung__Freigabe: FSK 12__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Ja/Ja |