Originaltitel: Vox Lux__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2018__Regie: Brady Corbet__Darsteller: Natalie Portman, Jude Law, Jennifer Ehle, Raffey Cassidy, Stacy Martin, Matt Servitto, Natasha Romanova, Daniel London, Fred Hechinger, Allison Winn, Candace Smith, Sophie Lane Curtis u.a. |
A 21st Century Portrait. Klingt vermessen, wenn es von einem Regisseur und Autoren kommt, der selbst erst in seinen 30ern ist und diese Tagline in die Welt setzt, als das 21. Jahrhundert gerade mal die Volljährigkeit erreicht hat. Selbst wenn es sich bei Brady Corbet um Leonardo da Vinci höchstpersönlich handeln würde, wäre seine Mona Lisa beim Modellsitzen immer noch bis zur Stirn hinter einer schwarzen Plane verborgen.
Zugegeben, seit beim großen Jesus-Geburtstags-Counter die 2 am Anfang steht, sind bereits viele Dinge geschehen, die massiven Einfluss auf das Weltgeschehen genommen haben. Das Jahr 1999, das gefühlt die Weichen stellte für alles Nachfolgende, brachte das Columbine-Massaker, ein erstes international sichtbares Krankheitssymptom einer amerikanischen Nation, die sich vor anderen Nationen stets als unzerstörbar präsentierte. Dann 9/11. Die Verbreitung von Internet-Kommunikation, Virtualität und Digitalität. Beschleunigung der Informationswege und der Entwicklung von Informationstechnologie. Und vielleicht ist der Popstar tatsächlich der kleinste gemeinsame Nenner dieser Entwicklung. Er ist es schließlich, der Opium für die Massen produziert, er berauscht und betäubt sie, er eint sie im Glauben, lässt sie gemeinsam die vielen kleinen Wunden verarbeiten, die wie ein Kreuzfeuer Tag für Tag auf sie einprasseln. Seine Konzerthalle ist eine neue Art von Kirche, sein künstlicher, durch stetige Wiederholung zuletzt völlig bedeutungsloser Gesang eine neue Art rituellen Gebets, sein akribisch einstudierter Tanz die Kreuzigungspose, sein glitzerndes Ganzkörper-Kostüm der Dornenkranz.
Corbet eröffnet in Farben, die selbst den Tag dunkel erscheinen lassen. Er erstellt ein prä-apokalyptisches Szenario des im Sterben liegenden 20. Jahrhunderts. Der Abspann läuft bereits dort, wo sich normalerweise der Vorspann befindet, während die Kamera nah am Boden um einen Krankenwagen kreist und der Asphalt die Neonfarben der Sirenen verschluckt. Bei der Unmittelbarkeit, mit der zu Filmbeginn das Massaker an einer High School seinen Verlauf nimmt, orientiert sich die Regie an der brachialen Wirkung eines „Polytechnique“ von Denis Villeneuve; die Erfahrung, dass sich ein scheinbar normaler Schultag binnen Sekunden in ein Horrorszenario verwandelt, wird mit dem höchsten Grad an Immersion umgesetzt.
Mit dem ersten Song, der auf einer Trauerfeier vorgetragen wird, setzt dann die Wirkung des Opiums ein, und Corbet betäubt damit nicht nur die Figuren seines Films, sondern auch sich selbst und seine Arbeit. Eine Wolke von Glitter und Gloria umhüllt alsbald weit mehr als die kreischenden Fans im Publikum, sie umhüllt auch die Regieanweisungen, Kamera und Lichtsetzung, Drehbuch und Dramaturgie, die Schauspieler sowieso, kurz: Den gesamten Film und die Form, die er annimmt. Setzen sich im ersten Teil, passend zur größenwahnsinnigen Tagline „Genesis“ getauft, auch dank der Jungschauspielerin Raffey Cassidy noch kurze Momente der nüchternen Reflexion einer ins Irreale driftenden Wirklichkeit durch, so hat die vollständige Betäubung spätestens dann eingesetzt, wenn Natalie Portman schließlich die Bühne betritt. In diesem zweiten Teil des Films, der „Re-Genesis“, wird man eingelullt von der entkernten Hülse zeitgenössischer Popmusik, die seit Jahrzehnten, ja vermutlich tatsächlich seit Anbeginn des 21. Jahrhunderts, in einem erschütternden Zombiedasein dahinsiecht. Und so wird auch „Vox Lux“ selbst zu dem paralysierenden Licht, vor dem er in dem wahrlich fesselnden Prolog noch warnte.
Schaut in den Trailer von “Vox Lux”
httpv://www.youtube.com/watch?v=XnotG8uuTRU
Natürlich ist genau das der Plan. Corbet legt es darauf an, die Gestalt dessen anzunehmen, was er als betäubend empfindet. Der zeitgenössische Popstar Sia steuert völlig uneitel einen Soundtrack bei, der ihr so gar nicht schmeichelt, und Natalie Portman trägt ihn offenbar teilweise mit eigener Stimme vor. Die Songs klingen genau so, wie sie eben in diesem Kontext klingen sollen: Dünn wie vorläufige Workprint-Fassungen, artifiziell, synthetisch, leblos und leer. Möchte man tippen, in welchem Stil Corbet sein „21st Century Portrait“ anlegt, so muss es sich wohl um den „Magischen Realismus“ handeln: So nah an der Qualität echter Popmusik der heutigen Zeit und dabei mit genug Feenstaub aufgeblasen, dass die Füße kaum mehr den Boden berühren. Willem Dafoe, der sich hin und wieder als Off-Kommentator einschaltet, spricht dann zum Abschluss ein paar unscheinbare letzte Worte, deren Bedeutung man beinah verpassen könnte, weil man sich noch in der Hypnose befindet. Doch der Inhalt seiner Worte hebt die Hypnose mit einem Fingerschnippen auf und endlich ist das Konstrukt entlarvt.
Irgendwo in dieser detailgetreuen Abbildung einer offenbar toten Popkultur, die mit dem Nihilismus einer strahlenden Erlöser-Erscheinung in die Zukunft blickt, steckt mit Sicherheit ein entlarvendes Meisterstück, wie es in den ersten Minuten auch faktisch auf der Leinwand Gestalt annimmt. Obwohl Portman im Grunde völlig fehlbesetzt wirkt in der Hauptrolle – zu alt für eine 31-Jährige, eine zu vernünftige Ausstrahlung für einen von der Realität entkoppelten Popstar – darf sie einige Wahrheiten in den nicht enden wollenden Schwall hohler Sätze einstreuen, der ihr vom Drehbuch vorgegeben wird. Zum Beispiel, dass es nicht darum geht, die Schönste zu sein oder die Beste, sondern um Faktoren wie Timing, Gelegenheit, Ausdauer und Glück. Eine Wahrheit, die möglicherweise Universalgültigkeit besitzt, im Zeitalter der Beschleunigung jedoch sicherlich noch höhere Relevanz genießt. Die Sängerin im unbeholfenen Umgang mit ihrer Tochter (wieder Raffey Cassidy, die schon die junge Celeste spielte) zu sehen, sagt viel aus darüber, welche Art von Idolen wir heute erschaffen und was sie über uns aussagen.
Der größte Trick des Teufels ist bekanntlich, uns weiszumachen, dass er nicht existiert. Am Ende ist „Vox Lux“ von seinem Beobachtungsgegenstand jedenfalls praktisch nicht mehr zu unterscheiden – außer an der nackten Angst, die unterschwellig in dem grinsenden Gesicht des Popstars waltet. Corbet findet sich nur leider in einem Zwiespalt wieder: Möchte er die perfekte Illusion erzeugen, um den Betrachter zu täuschen, oder möchte er die Leere in der Illusion entlarven? Geboten wird jedenfalls eine betont magere Show, aufgeplustert durch Lichteffekte, extravagante Kostüme und das besinnungslose Kreischen des Publikums. Man könnte sagen, Corbet trifft gerade durch die exakte Imitation den Kern seines Betrachtungsgegenstands. Doch wenn das Falsche der Popmusik permanent zu Tage tritt, kann dann überhaupt noch die perfekte Illusion gelingen, damit die Dunkelheit sie mit einem lauten Knall in die Luft sprengt?
„Vox Lux“ lief im Sommer 2019 in den deutschen Kinos. Im Mai 2020 erschien über Koch Films eine Blu-ray und eine DVD. Als Extras enthalten sind ein Interview mit Hauptdarstellerin Natalie Portman (ca. 4 Min.), ein weiteres Interview mit Regisseur Brady Corbet (ca. 14 Min.) sowie eine Bildergalerie.
Bildergalerie
Sascha Ganser (Vince)
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