Originaltitel: Voyna i mir__Herstellungsland: Sowjetunion__Erscheinungsjahr: 1965 – 1967__Regie: Sergei Bondartschuk__Darsteller: Sergei Bondartschuk, Ljudmila Saweljewa, Vyacheslav Tikhonov, Boris Zakhava, Anatoli Ktorov, Anastasiya Vertinskaya, Antonina Shuranova, Oleg Tabakov, Viktor Stanitsyn, Irina Skobtseva, Boris Smirnov, Vasiliy Lanovoy u.a. |
Woher auch sonst als aus den Wolken heraus könnte sich der Narrator wohl der Szenerie annähern. Es gilt schließlich, den Überblick zu bewahren über nichts Geringeres als „Krieg und Frieden“, Tolstois monumentales Vermächtnis, in dessen Verschlungenheit aus gesellschaftlichen, militärstrategischen und philosophischen Perspektiven man sich schnell verlieren kann. So jedenfalls geht es jedem der zahlreichen Protagonisten darin, allesamt Gefangene der Zeit, in die sie hineingeboren wurden, den großen Zusammenhang ihres Daseinszwecks niemals völlig begreifend, ganz gleich, ob sie nun ihre Position im großen Ganzen bewusst hinterfragen oder sich ihrem Schicksal fügen.
Auf die Dunkelheit der Ouvertüre folgt das grelle Licht des Himmels. Weiße Fetzen rasen im Sturzflug an der Kameralinse vorbei und geben fragmentarisch den Blick preis auf unbestelltes russisches Feld, das nicht länger als Wiege der Fruchtbarkeit auserkoren ist, sondern als blutige Zusammenkunft französischer und russischer Truppen im Kontext der Napoleonischen Kriege. Der Narrator entpuppt sich als körperloses Echo Tolstois, insofern er sich mit einer gewissen Distanz über das aufwühlende Spiel der Gezeiten äußert, von den eigenen Artgenossen dadurch ausgelöst, dass sie immer nach jenem Zustand streben, der gerade nicht an der Tagesordnung steht.
So wird also von weit oben der westliche Teil Russlands zwischen Moskau und St. Petersburg durch weite Landschaftsaufnahmen kartografiert, während die Klangkulisse sich bereits zu einer durchaus bedrohlichen Wand aufbaut, in ihrer Höhe äquivalent zur Vogelperspektive der freischwebenden Kamera. Der Sprecher bleibt in seiner Rhetorik betont nüchtern, indem er nach mathematischer Logik die sich anziehenden und abstoßenden Pole menschlicher Natur beschreibt: Wo sich korrupte Agitatoren zu einer Macht vereinen, da müssen eben die Aufrichtigen das Gleiche tun, um die Macht auszugleichen. So einfach sei das.
Einfach ist es aber beileibe nicht, sich durch das Gewühl aus Familienstammbäumen, Namenstags-Festivitäten, Liebesnetzen und Kettenreaktionen von sich gegenseitig anstoßenden Aufständen und Schlachten zu manövrieren. Das war es schon bei Tolstoi nicht. Aus den Wolken betrachtet mögen sich all diese kleinen Abläufe zu einem logischen Konstrukt zusammenfügen, doch einmal in die einzelnen Seiten eingetaucht, ertränkt der Autor den Leser in akkuraten historischen Details, weitergesponnen über fiktionale Prosa im realistischen Stil und schließlich destilliert zu einleuchtenden Aphorismen, mit denen sich die Position des Verfassers schließlich aus den Schatten der Hintergrundkulisse löst, um endlich in den Vordergrund zu treten.
Sergei Bondartschuk musste sich nicht nur mit der epochalen literarischen Vorlage messen, sondern auch mit der prunkvollen, mit Star-Appeal veredelten, jedoch in den Handlungssträngen stark eingedampften Hollywood-Verfilmung von King Vidor aus dem Jahr 1956. Nun, zehn Jahre später, sollten die Dimensionen noch großflächiger erscheinen, die Montagen aus Krieg und Gesellschaft noch präziser geknüpft werden. In vier Teilen zwischen 1965 und 1967 abgedreht und der Struktur der Vorlage somit nacheifernd, wird bereits auf der obersten dramaturgischen Ebene deutlich, dass die sowjetische Verfilmung dem Roman in Sachen Komplexität und Detailgrad ein möglichst genaues Abbild sein möchte, eine teilweise fast wortgetreue Übersetzung in Bild und Ton, so sehr dies eben möglich ist. Und wenn ein solches Vorhaben auch immer scheitern muss, sogar wenn man sich wie Bondartschuk volle sieben Stunden Zeit nimmt, so gelingt ihm bei dem Versuch dennoch eine meisterhafte Adaption; weil sie die wesentlichen Ereignis- und Personengeflechte nahezu ohne Verfälschung abbildet und dabei trotzdem alle Stärken auskostet, die das Kino als Medium zu bieten hat, sie vielleicht sogar in einem Maße zum Vorschein bringt, wie sie der Monumentalfilm seither nicht wieder reproduzieren konnte.
In jenem Teil der Handlung, der von den gesellschaftlichen Aktivitäten handelt, stünde bei der Übertragung von Buch zu Film womöglich die Epoche aufblühender Romantik als potenzieller Übersetzungsfehler zu befürchten, doch dieser Fehler wird in der äußeren Form zu keiner Zeit begangen. Schon die erste Ballsequenz ist alles, nur kein romantisierender Pomp in märchenhaften Farben. Fotografiert in seltsam fahlem Licht, scheinen die Gäste sich beinahe in Zeitlupe über die spiegelglatten Bodenflächen zu bewegen (einmal sieht man sogar einen Statisten, der Contenance bewahren muss, um nicht auszurutschen), während sie mit toter Mimik ihren sozialen Ritualen frönen. Tänze sind im weiteren Verlauf so choreografiert, dass sie im wahrsten Sinne im Nichts verlaufen, sich am Ende der Kette auflösen und am Anfang wieder von vorn beginnen. Porträtiert wird ein Hochadel, der auf inzestuöse Weise im eigenen Safte schmort, dabei bevorzugt vornehmes Französisch spricht und vom Kommentator als „Crème de la Crème“ eingestuft wird; nicht ganz ohne Unterton in der Stimme, wenn für einen kurzen Moment die Neutralität vergessen wird.
Schaut in den Trailer
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Inmitten dieser unnatürlich wirkenden Routinen des Beieinanders einer Bonne Societé führt Bondartschuk Pierre Bezukhov ein. Obgleich auch vielen anderen Figuren enorm viel Raum gegeben wird, sich zu entfalten und streckenweise sogar die Führung in der Handlung anzunehmen, obwohl zum Beispiel auch nach Andrei Bolkonski (Wjatscheslaw Tichonow) und Natascha Rostowa (Ljudmila Saweljewa) zwei der vier Kapitel benannt sind, kann man Pierre wohl als den einen roten Faden des sonst in alle Richtungen ausschweifenden Epos bezeichnen. Mehr noch ist er das als im Roman, auch wenn er dort ebenso eine sehr zentrale Position einnimmt. Es heißt, Bondartschuk habe den Gewichtheber und olympischen Goldmedaillengewinner Juri Wlassow für die Rolle des Pierre gewinnen wollen, weil er sich einen kräftigen Burschen ausmalte, doch dieser habe sich die Rolle nicht zugetraut und abgelehnt. Also besetzte Bondartschuk die Rolle kurzerhand mit sich selbst, was nicht weiter ungewöhnlich ist, da er zu jenem Zeitpunkt nur einmal Regie geführt hatte, sehr wohl aber bereits viel Erfahrung vor der Kamera hatte. Pierre ist nun mit dem Gesicht des Regisseurs beschlagen eine gemäßigte Variante der teils drastischen Beschreibungen Tolstois, ein rundlicher, unauffälliger Mann nämlich mit kränklicher Gesichtsfärbung, der praktisch in jeder Umgebung als Fremdkörper in Erscheinung tritt, ob er sich nun zu festlichen Anlässen unter die Leute mischt, sich auf schneebedecktem Feld der Ehre wegen duelliert oder mit weißem Zylinder auf dem Schlachtfeld steht und von den Verwundeten belächelt wird. Durch seine Außenseiterposition wird er auch in der Filmadaption zum Schlüssel für die Meta-Betrachtung auf die beschriebene Epoche, wie sie gewissermaßen bereits mit dem Blick durch die Wolken in der Eröffnung eingenommen wird.
Schon diese vermeintlich schlichten Momente der gesellschaftlichen Zusammenkunft oder der Zwiegespräche in verschwenderischen Zimmern (die eher als Säle zu bezeichnen sind) werden nicht nur durch die beeindruckende Ausstattung aufgewertet, sondern auch durch die erlesene Kameraarbeit. Als sich Pierre mit Dolochow (Oleg Jefremow) und vielen anderen in einem Gelage betrinkt (während sich übrigens ein echter Braunbär inmitten der seligen Meute am Buffet zu schaffen macht!), neigt sich die Perspektive mit den Bewegungsabläufen der Betrunkenen, so dass der Betrachter zum aktiven Komparsen in der Szene gemacht wird – was dadurch an Intensität gewinnt, dass einige der Trunkenbolde ihrer Liebe zum Schnaps am offenen Fenster über dem Abgrund zur Straße frönen und die Kamera mit brillanten perspektivischen Tricks die Gefahr der Lage simuliert.
Diese formidabel mit Sinneseindrücken spielende Sequenz ist aber nur ein kleiner Vorgeschmack auf das Feuerwerk, das „Krieg und Frieden“ in den folgenden Stunden in Sachen Visualität und Dynamik noch zu bieten hat. Nicht umsonst wird dieser Film immer wieder an seinen rekordverdächtigen Produktionskosten gemessen, was letztlich nichts anderes als der hilflose Versuch ist, über die nackten Zahlen ein unglaubliches Spektakel in Worte zu fassen, das sich während der Schlachten auf dem Bildschirm manifestiert. Wenn die Verfilmung vom Roman abweicht, dann wohl hier: Während das Kriegsgeschehen bei Tolstoi in gewisser Weise nicht immer, aber oft bloß eine dunkle Wolke im Hintergrund blieb, entfesselt Bondartschuk ein mehr als verschwenderisches, ein schon regelrecht wahnsinniges Ballett aus Pyrotechnik, Kostümen und Komparsen. Über raffinierte Match Cuts werden die Parallelen zu den Tanzaufführungen gelegt und dann geht es auch schon los: Tausende Reiter und Fußsoldaten in Reih und Glied, wie sie stur ihrer Bestimmung folgen, Feldherren, die seelenruhig auf ihrem Hügel hocken und sich Strategien einfallen lassen, während wenige Meter von ihnen entfernt Kugeln einschlagen. Die St. Petersburger Bevölkerung, die angesichts der vorrückenden Truppen Napoleons zum Patriotismus findet und auf offener Straße in wildem Aktionismus durcheinanderläuft, während die Soldaten wie Ameisen in ihrer Bahn bleiben und seelenruhig durch das Chaos navigieren. Offensichtlich wurden die Kosten bedeutungslos, als es darum ging, Bilder zu erschaffen, die ein unverrückbares Unikat in der Filmgeschichte bedeuten, dankenswerterweise oft in erlesenen Panoramen mit langen Kamerafahrten gefilmt, gerne auch wieder aus der Luft, um die verblüffenden Muster menschlicher Koordinationsfähigkeit einzufangen. Dennoch geht es immer mal wieder ins Detail, mit Egoperspektiven verletzter und fallender Soldaten, die ein letztes Mal in den Himmel blicken (und damit zu uns, die wir aus der göttlichen Metaperspektive auf die Statisten hinabblicken), mit Froschperspektiven, aus denen heraus sich Kompositionen wie von einem Gemälde ergeben, mit schnellen Schwenks, bei denen dennoch stets die Übersicht erhalten bleibt.
Man erwischt sich im Zwiespalt, die einmalige Ästhetik dieser Augenblicke zu genießen, wo man das Gezeigte inhaltlich doch verurteilen sollte; äquivalent zu den Ballszenen wird durch großzügige Einstellungslängen und eingestreute Freeze Frames sogar immer mal wieder die Relativität von Zeit auf die Probe gestellt, fast so, als solle man Gelegenheit bekommen, die Abläufe in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Es liegt eben im klassischen Sinne kein Antikriegsfilm vor, sondern unter dem Strich eine anthropologische Studie, die Verblüffendes zu berichten weiß, selbst wenn die grundlegenden Wesenszüge bekannt sind. Es ist beinahe so, als schaue man eine Dokumentation über die Natur selbst: Man weiß um ihr wundersames Wesen, aber wenn man es in solch prachtvolle Bilderbögen gebannt sieht, kommt man dennoch aus dem Staunen nicht heraus.
„Krieg und Frieden“ ist aber eben mehr als einfach bloß einer der teuersten und aufwändigsten Filme aller Zeiten, weil er dem Spektakel nie die Handlung opfert. Tolstois besonderer Montagestil spiegelt sich unter Sergei Bondartschuks Führung als Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller von der Kapitelstruktur bis zur Akzentuierung einzelner Charaktere in allen Bereichen. Die Möglichkeiten der Filmtechnik werden virtuos genutzt, um in der unwahrscheinlichen Komplexität sich überlagernder Erzählebenen systematische Überlagerungen auszumachen und zu einer einfachen Gleichung auszuformulieren. Durch die Akribie in der Auswahl und Verknüpfung der zentralen Passagen gelingt nicht nur das Monumentalwerk für die großen Hallen, sondern auch jenes der Philosophie, der Kriegsgeschichte und der menschlichen Tragödie – sich bedingende Dimensionen desselben Betrachtungsgegenstands, für dessen Beobachtung Bondartschuk wahrlich die geeignete Position gefunden hat.
Informationen zur Veröffentlichung von “Krieg und Frieden”
Drop Out #040
Der Mosfilm-Hattrick ist komplett. Kein lupenreiner, zugegeben; irgendwo zwischen den anderen beiden Mosfilm-Produktionen „Komm und sieh“ und „Kin-Dza-Dza!“ erschien auch noch der ungarische Trickfilm „Der Sohn der weissen Stute“ von Pannónia, aber für Bildstörung, das in der Vergangenheit gerne übersehene Filmwerke aus der ganzen Welt nach Deutschland gebracht hat, kann man bei der jüngsten Fokussierung auf den Ostblock durchaus von einer Serie sprechen. Und wenn ein Film die Fortführung dieser Serie rechtfertigt, dann ist es ganz bestimmt Sergei Bondartschuks monumentale Adaption von Tolstois „Krieg und Frieden“.
Wie bei so vielem aus dem Bestand der Mosfilm lagen auch hier die Auswertungsrechte für Deutschland initial bei Icestorm Entertainment, unter deren Banner bei uns viele Großmeister des Sowjetkinos verfügbar gemacht wurden. „Krieg und Frieden“ erschien im Jahr 2006 als 4-DVD-Box mit der deutschen DEFA-Synchronisation und einigen Extras, aber ohne russischen Originalton. Dieser wiederum stand auf der RUSCICO-Edition zur Verfügung. Nun erscheint das vierteilige Werk als Blu-ray-Premiere unter der runden #40 in der Drop-Out-Reihe als opulent aufgemachtes 3-Disc-Set.
Wenn der Preis für die Edition im Laden höher ausfällt als von der Reihe gewohnt, dann liegt das natürlich an der schieren Materialfülle. Alleine der Hauptfilm misst immerhin bereits sieben Stunden und belegt alleine bereits zwei Double-Layer-Blu-rays; lediglich der Trailer ist als Bonusmaterial auf der zweiten Blu-ray enthalten. Alle übrigen Extras wurden auf eine Bonus-DVD ausgelagert.
Die Verpackung
Doch kommen wir erst zur Verpackung. Tolstoi lebt!, schreit der Werbe-Button dem Käufer auf dem Umschlag entgegen. Links ist der Oscar für den besten ausländischen Film abgebildet, darunter gibt es noch einen Hinweis auf die deutsche DEFA-Synchronisation. All diese Hinweise wurden selbstverständlich für den eigentlichen Schuber ebenso wie das Blu-ray- und FSK-Logo entfernt, hier sehen wir einfach nur, wie Andrej Bolkonski mit Flagge in der Hand auf dem Schlachtfeld liegt, während Napoleon auf dem Pferd über ihm thront – eigentlich nur ein Szenenausschnitt aus dem Film, jedoch so meisterhaft arrangiert, dass man meinen könnte, man habe es mit einem Gemälde zu tun. Auf dem Backcover finden wir eine Inhaltsangabe, einige Screenshots, Besetzungsinformationen und technische Spezifikationen. Die Rückseite des Umschlags ist darüber hinaus noch mit einem Abriss der Bedeutung des Films für die Filmgeschichte bedruckt, ferner mit einem Zitat der New York Times, das diesen Abriss unterstützt. Die transparente Amaray zeigt von außen wie üblich eine völlig textfreie Szenerie, diesmal ein Schlachtfeld, von dem die Soldaten mit ihren Pferden abziehen. Einen Innendruck gibt es auch (ein Gemälde oder eine stark verfremdete Fotografie von Napoleon, wie er mit seinen Männern auf dem Hügel über das Kriegsfeld wacht), doch um diesen zu sehen, muss man erst einmal die drei Discs und das Booklet entfernen.
Das Booklet
Letzteres kommt mit einem russischen Alternativposter als Frontcover und besteht aus 24 Seiten. Darin referiert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Christine Engel weniger über den Hauptfilm (ihm und den anderen Filmadaptionen werden lediglich zwei Absätze gewidmet), sondern eher über den Roman sowie Tolstoi selbst, dessen ambivalentes Verhältnis zum Adel zu Ausgangspunkt für die Schwerpunkte erklärt wird, die der Autor in seinem Magnum Opus setzte – von den Kontrasten, die er darin schuf, bis zur Vielschichtigkeit, die er dazwischen ausbreitete. Weil sie Bondartschuks Vision eine hohe Vorlagentreue zugesteht, beschreibt sie damit gewissermaßen also auch den Film, auch wenn sie einen entscheidenden Punkt hervorhebt, in dem sich Buch und Film deutlich in ihrer Aussage unterscheiden. Möglicherweise handelt es sich nicht um einen aktuellen Text, denn auf die 2007 entstandene TV-Miniserie verweist die Autorin als bis dato letzte Adaption; dabei entstand im Jahr 2016 eine weitere Miniserie mit Paul Dano als Pierre, James Norton als Andrei und Lily James als Natascha.
Die oberen 30 Prozent der Seiten sind jeweils mit Bildern aus dem Film bedruckt, der Text selbst besteht wissenschaftlich-schlicht aus weißen Buchstaben auf schwarzem Papier. Auf den letzten Seiten findet man noch eine sehr hilfreiche Tabelle mit den wichtigsten Rollen, ihren Darstellern und den jeweiligen Sprechern der deutschen Synchronisation, ferner Danksagungen an Mosfilm, die DEFA-Stiftung, Icestorm, das Filmtheater Schauburg in Karlsruhe (wo der digitale Transfer stattfand) sowie RUSSIA Television und das WDR, von dem Teile des Bonusmaterials stammen.
Der Ton
Auch der Aufbereitung des deutschen Tons wird eine Seite im Booklet gewidmet. Hier werden nicht nur äußerst spannende Details zum Aufnahmeverfahren geteilt, mit ihnen lassen sich vor allem die recht ungewöhnlichen Charaktereigenschaften der aufgespielten 5.1-Spur erklären. Vieles spielt sich nämlich über Frontkanäle ab und erzeugt dort auch durchaus eine gewisse Räumlichkeit, nur selten verteilt sich das Getummel auf dem Schlachtfeld auch mal auf die hinteren Kanäle. Offenbar liegt das daran, dass damals sechs Kanalspuren aufgenommen wurden, die Verteilung aber nicht direkt dem üblichen Surround-Format entsprach (Geräuschkulisse vorne und hinten, Dialoge über den Center), sondern eher darauf ausgelegt war, vor der Leinwand ein Spektrum von links außen bis rechts außen auszufüllen. Diese Verteilung wurde für die vorliegende Edition beibehalten, so dass die frontalen Lautsprecher auf der Linken und Rechten auch bei der Stimmverteilung die Hauptrolle innehaben. Zur Sprache kommen auch Tonaussetzer und Fehlstellen, die mit Mono-Material aufgefüllt werden mussten. Das merkt man auch durchaus in mehreren Passagen, wenn die Figuren sprechen und sich die Tonqualität noch mitten im Satz merklich verschlechtert. Das mag den Hörgenuss ein wenig trüben, mit Wissen um die Materiallage lassen sich diese Aussetzer aber gut verdauen, zumal diese Stellen sehr organisch zusammenmontiert wurden und sich abgesehen von den Qualitätsschwankungen selbst kaum Nahtstellen ausmachen lassen. Äußerst wichtig zu erwähnen ist natürlich auch, dass man nun endlich die Wahl hat zwischen der deutschen Synchronisation und der originalen russischen Tonspur, die ebenfalls in DTS-HD Master Audio 5.1 vorliegt. Dazu darf man selbstverständlich auch auf optionale deutsche Untertitel zurückgreifen.
Das Bild
Das Bild basiert auf einem über Mosfilm angefertigten neuen Transfer, der auch für die im Juni 2019 erschienene englische Criterion Collection verwendet wurde und dort als 2K deklariert wird, wohingegen Bildstörung unter Verweis auf Mosfilm mit 4K wirbt – fest steht jedenfalls, dass es sich um das gleiche Master handelt. Präsentiert im originalen 2,35:1, wird den phänomenalen Bildkompositionen der nötige Raum zum Atmen gegeben. Besonders auffällig ist die ungewöhnliche Farbpalette, die weniger an natürlichen Tönen orientiert ist als vielmehr an gedeckten Farben. Dieser Effekt scheint in Teilen eine künstlerische Entscheidung zu sein, mit der sich ein gewisser Irrealismus in das durch Kostüme und Ausstattung so authentisch wirkende Szenario einschleicht. Je nach Sequenz oder auch Kapitel werden auch gelegentlich andere Akzente gesetzt, mit denen sich das Spektrum anderen Bereichen annähert. Die Bildschärfe ist insgesamt gut genug, um jeden einzelnen Statisten sichtbar zu machen unter den Tausenden, die sich teilweise in einer Einstellung tummeln. Selbiges gilt für die Verzierungen der Säle, in denen Bälle stattfinden oder sich zwei Personen im Privaten unterhalten. Allerdings ist angesichts einiger offenkundiger Schwächen etwa in den Kontrasten von einer eher problematischen Materiallage auszugehen. Der Wow-Effekt des Bildes von “Komm und sieh” etwa kann nicht wiederholt werden. Gegenüber den bislang erhältlichen DVD-Editionen ist diese Präsentation aber zweifelsohne ein gigantischer Sprung.
Das Bonusmaterial
Ebenfalls von der Criterion-Edition übernommen wurde ein Teil des Bonusmaterials. Dazu gehört, man höre und staune, sogar eine deutschsprachige Dokumentation, die während der Produktion des dritten und vierten Kapitels im Auftrag des WDR entstand, der Tonqualität des Sprechers zufolge allerdings wesentlich später mit einem Voiceover überspielt wurde, klingt dieses doch nach einer aktuellen Produktion. Der besondere Wert dieses dreiviertelstündigen Schwarzweißfilms besteht darin, dass das Produktionsteam bei den Dreharbeiten hautnah dabei war, so dass man seltene Hinter-den-Kulissen-Aufnahmen zu sehen bekommt. Darüber hinaus ist der Beitrag sehr gewissenhaft recherchiert und mit neutralem Gestus präsentiert, wie er typisch für die Öffentlich-Rechtlichen ist.
Auch bei Criterion zu sehen war das russische Making Of aus dem Jahr 1969 (30 Min.), das nun bei Bildstörung mit optionalen deutschen Untertiteln zu sehen ist. Die Erläuterungen des Off-Kommentators lassen es wie einen Werbefilm wirken, stellt er doch fortwährend die großen Herausforderungen in den Mittelpunkt, die zu bewältigen waren, doch wie bei der WDR-Dokumentation gibt es extrem aufschlussreiches Bildmaterial zu sehen. Insbesondere der Blick hinter die Kulissen der aufwändigen Actionsequenzen erweist sich als extrem sehenswert, aber auch die Postproduktion (etwa Musik und Schnitt) wird angemessen thematisiert.
Kernstück der Extras ist aber die Dokumentation über Sergei Bondartschuk aus dem Jahr 2010, die anscheinend für das russische Fernsehen produziert wurde. Ganz bestimmt jedenfalls muss man von einem Kernstück reden, wenn man nach der Laufzeit geht. Stolze 104 Minuten lang darf man über den Schöpfer der größten aller „Krieg und Frieden“-Adaptionen so einiges lernen, in seine Sozialisation eintauchen, seine Vorlieben, seine Einflüsse und seine kulturelle Bedeutung für das Land. Wie sein großes Meisterstück ist auch die Aufarbeitung seines Vermächtnisses 16 Jahre nach seinem Tod in vier Teile gegliedert, die man entweder einzeln oder am Stück anwählen kann. Viele Informationen stammen von seiner Tochter Natalia, die etliche Passagen der Dokumentation mit Anekdoten begleitet, aber unzählige andere Wegbegleiter melden sich zu Wort, um die Essenz seines Schaffens, aber auch seiner Person auf den Punkt zu bringen.
Das ist aber noch nicht alles. Kameramann Anatoli Petrizki schildert in einem 25-minütigen Interview seine Sicht auf die Dreharbeiten und thematisiert dabei sehr praktische Fragestellungen: Wie hoch muss man fliegen, um die Erdkrümmung mit der Kamera einfangen zu können? Wie stoppt man eine Kamera, die für eine freischwebende Fahrt an einem Seil befestigt wird, um über das Set zu streifen? Wer sich für die Lösung solcher technischen Probleme interessiert, der wird bekommt eine Menge Gelegenheit, sich in das Set einzudenken.
Wassili Lanowoi, der den Anatol Kuragin spielte und erst Anfang 2021 verstarb, ist in einem weiteren Interview (9 Min.) zu sehen. Da Lanowoi nicht nur Schauspieler war, sondern auch Lehrer für das Theater, lässt er von Beginn an keinen Zweifel, dass er die russische Literatur und hier insbesondere „Krieg und Frieden“ als größte kulturelle Errungenschaft und somit Pflichtprogramm für seine Kurse erachtet. Später rechnet er dann noch mit der russischen intellektuellen Elite ab, die den Film kurz nach Erscheinen in der Luft zerriss, bevor er innerhalb des Landes und international zum Siegeszug ansetzte. Lanowoi scheint jedenfalls ein heißblütiger, hochmotivierter Zeitgenosse gewesen zu sein, den man sich sehr bildhaft vor wissbegierigen Schülern vorstellen kann.
Und weil man über Sergei Bondartschuk nie genug erfahren kann, wird er noch einmal in einem 14-minütigen Kurzportrait geehrt. Hier handelt es sich um eine Art Video-Biografie, die sein Leben von der Kindheit an aufrollt und ihn auch selbst in Interview-Ausschnitten zur Sprache kommen lässt. Alles selbstverständlich mit dem Ziel, seinen Qualitäten vor und hinter der Kamera Anerkennung zukommen zu lassen.
Als Abschluss winkt noch ein kurzer Dokumentarfilm über Lew Tolstoi (22 Min.). Abgesehen, dass er sich nicht mehr selbst zu Wort melden kann, gleicht der Aufbau dem vorhergehenden Video über Bondartschuk. Schreibmaschine, Schreibtisch und andere Requisiten sollen den Geist Tolstois in seinem ehemaligen Domizil wiederbeleben, so dass der Zuschauer mehr über den Schriftsteller erfahren kann, der immerhin auf wenigen Fotos und am Ende sogar in einer Reihe kurzer Stummfilm-Aufnahmen zugegen ist. Als sich der Fokus Tolstois Hauptwerk inhaltlich zuwendet, rückt auch seine Philosophie in den Vordergrund und schließlich sein Vermächtnis in einer von den Weltkriegen zerrütteten Nachwelt.
Damit kommt man auf eine Gesamtlaufzeit von über vier Stunden Extras. Rechnet man nun noch den Hauptfilm dazu, bietet „Krieg und Frieden“ im Drop Out #40 von Bildstörung mehr als nur ein Abendprogramm, nämlich elf Stunden hochwertige Information und Unterhaltung, die ausreicht, um ein ganzes Wochenende unter dem Motto Tolstoi und Bondartschuk zu feiern.
Sascha Ganser (Vince)
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Sascha Ganser (Vince)
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