Originaltitel: Maa on syntinen laulu__Herstellungsland: Finnland__Erscheinungsjahr: 1973__Regie: Rauni Mollberg__Darsteller: Maritta Viitamäki, Pauli Jauhojärvi, Aimo Saukko, Sirkka Saarnio, Veikko Kotavuopio, Maija-Liisa Ahlgren, Toivo Tuomainen, Mikko Lecklin, Niiles-Jouni Aikio, Osmo Hettula, Jouko Hiltunen, Milja Hiltunen u.a. |
Während die Menschheit gerade die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs verarbeitet, steht ein Fleckchen Erde im finnischen Lappland still. Es ist ein aufrührendes, ein lautes Jahrzehnt, das sich hier dem Ende neigt. Die Oberfläche eines kleinen Sees, die unter einer Nebelwand glitzert, nimmt davon keine Notiz. Da ist nur das Plätschern, verursacht durch leichte Unebenheiten auf dem Wasser, übertönt vom schrillen Lachen der Menschen in einem Boot, deren primitive Artikulation an diesem abgeschiedenen Ort einfach mal eben Weltgeschichte überschreibt.
In dem keineswegs vom Raum, aber doch zweifellos von der Zeit entbundenen Sozialdrama mit dem lyrischen Titel „Die Erde ist ein sündiges Lied“ wird der Geltungsrahmen besonders eng gefasst. So eng, dass nicht einmal Finnland im Ganzen hineinpasst. Einmal unterhalten sich zwei Einheimische kurz angebunden über eine Reise nach Helsinki, von der sie offenbar keine Horizonterweiterung mit in die ländliche Heimat genommen haben, sondern bloß ein paar Geschlechtskrankheiten. Relevant ist am Ende nur, was sich innerhalb der Grenzen des Dorfes abspielt; zwischen Frau und Mann, Mensch und Tier, Gott und Mensch. Alles bleibt in den Wechselwirkungen eines autarken Kreislaufs gebannt, alles bleibt auf Tuchfühlung mit dem Erdreich und alles geht in einer einzelnen, endlosen Melodie auf. Damit verdient sich Rauni Mollbergs Adaption den Namen des zugrundeliegenden Romans von Timo K. Mukka.
Nicht nur das Lappland-Setting, auch die ungewöhnliche Ausdruckskraft der Bilder erinnert an den 21 Jahre zuvor entstandenen Folklore-Horrorklassiker „Das weiße Rentier“ (1952) von Erik Blomberg. Stilistisch bestehen allerdings markante Unterschiede. Während Blomberg in seinen Schwarzweiß-Kompositionen von der übernatürlichen Verführung der Vampirmythologie Gebrauch machte, was nicht zuletzt dank der hypnotischen Ausstrahlung von Mirjami Kousmanen problemlos gelang, setzt Mollberg im Gegenteil auf einen zermürbenden Naturalismus, der sich durch den Kontrast menschlicher Hässlichkeit inmitten unberührter finnischer Landschaft ergibt. Wo ein Lappländer die Szenerie betritt, verdrängt er die Schönheit regelrecht aus dem Bild. Ist bereits seine Physiognomie ausnahmslos von schiefen Proportionen gekennzeichnet, sein Körper von Deformationen und sein Geist vom trüben Ausdruck der Einfältigkeit, zieht er noch dazu eine schmutzige Wolke existenzieller Furcht mit sich, die den Blick auf die idyllische Landschaft endgültig versperrt. Detailaufnahmen von schlechten Zähnen und speckige Falten aus entblößten Leibern sind es vielmehr, die sich ins Gedächtnis bohren, dazu absonderliche Angewohnheiten, garniert mit grausamen Episoden menschlichen und tierischen Leids, das sich aus der Einfachheit des Lebens ergibt.
Obgleich hier ein finnischer Regisseur die geistigen Erzeugnisse eines finnischen Autoren verfilmt, bietet sich der Blick auf etwas durchweg Entartetes; auf das Nicht-Eigentliche von außerhalb, ein fremdartiges Objekt auf einem kalten Seziertisch. Mollberg betreibt radikale Alterisierung, indem er eine scharfe Grenze zieht zwischen dem, was er als Erschaffer repräsentiert, und dem, was er andererseits modelliert – fast so, als wolle er sich einen Fremdkörper aus dem eigenen Fleisch schneiden. Das Handeln seiner Figuren verurteilt er dabei ebenso wenig unmittelbar wie er es gutheißt. Empathie jedweder Art bleibt ohnehin völlig außen vor, eine Romantisierung findet trotz der idyllischen Beleuchtung durch die finnische Wintersonne zu keiner Zeit statt. Die Kamera beobachtet lediglich mit wachsamem Auge die Abweichungen von den Errungenschaften moderner Zivilisation. Schamgefühl spielt kaum noch eine Rolle, wenn sich die von Hauptdarstellerin Maritta Viitamäki offenherzig demonstrierte Freikörperkultur weit über die Sauna hinaus ihren Weg in den Alltag gebahnt hat und überdies mitten im Winter auch noch die jugendliche Libido erwacht. Sexuelles Verlangen, Alkoholismus, Eifersucht und weitere Sünden kollidieren nun fortlaufend miteinander und vermengen sich ausgerechnet vor den richtenden Augen Gottes zu einem Dunst, der sich mit dem Nebel über dem See vermengt und ebenso wie die Blutlachen geschlachteter Rentiere Löcher in den Schnee frisst.
Dass eine Sozialstudie mit solch radikalen Mitteln und ohne Rücksicht auf das ästhetische Empfinden des Betrachters eine aufwühlende Wirkung hinterlassen muss, versteht sich von selbst. Einige Szenen sind wahrlich schwer zu ertragen, weil sie die Unerbittlichkeit im Kreislauf des Lebens auf eine besonders drastische Weise illustrieren. Gleichwohl ist der vermeintliche Naturalismus, der in den erdigen Farbkompositionen lebt, nur ein überzeugend nachgestellter Schein. „Die Erde ist ein sündiges Lied“ bedient offensiv Vorurteile gegenüber dem primitiv erscheinenden Landvolk, dessen Handeln vor allem über Bigotterie definiert wird. Gottesfurcht kollidiert dabei ungebremst mit dem Hang zum gotteslästerlichem Handeln. Der Zusammenhang fällt den Handelnden dabei oft nicht einmal dann auf, wenn Beides in einem Satz zur Sprache kommt. Der hier dargestellte Mikrokosmos gerät dadurch zunehmend zum spottenden Zerrbild moralischer Aufrichtigkeit.
Diese recht einseitige Darstellung kann man Mollberg durchaus zum Vorwurf machen, gerade weil sein dramaturgisches Konzept nicht derselben karikaturistischen Logik folgt, sondern auf natürlichem Wege mit dem Wechsel der Jahreszeiten einfach ausläuft – halb poetisch, halb dokumentarisch. Dass der Film an diesem Zwiespalt nicht zerschellt, liegt an der feinen Detailzeichnung der Figuren. Manchmal blitzen für Sekundenbruchteile Zweifel und Selbstreflexion in ihrem Verhalten auf, auch von eindeutigen Gut-Böse-Kategorisierungen wird Abstand genommen. Die Dinge sind bei näherem Hinsehen doch nicht immer so einfach, wie sie scheinen. Wenn etwa eine Gruppe von drei Personen aufopferungsvoll um das Leben einer Kuh kämpft, die unter Komplikationen ein Kalb gebiert, wird die unendliche Last spürbar, die diesen vermeintlich so tumben Landbewohnern von einer höheren Gewalt auferlegt wird. Die widersprüchlichen Entscheidungen der Figuren werden also nicht immer als moralische Schwäche interpretiert, sondern auch als Menschlichkeit in all ihrem Facettenreichtum. Mit Zynismus gestraft wird dabei das Böse in Gestalt der Natur, nicht jene, die nach den Gesetzen der Natur handeln.
Über jeden Zweifel erhaben ist das Formale. Mollberg weiß bereits in seiner ersten Regiearbeit ganz genau, welche Wirkung er mit welchen Mitteln zu erzeugen hat, was nicht ganz so überraschend ist, wenn man bedenkt, dass er zu jenem Zeitpunkt bereits 20 Jahre Erfahrung in Theater und Fernsehen gesammelt hatte. Die Arrangements sind ganz bewusst so vorausgeplant, wie man sie nun ohne Kompromiss im Endschnitt vorfindet. Jede Anweisung hat Methode. Gerade die Schauspielführung sticht heraus, der nahezu ausschließlich mit Laien besetzte und dadurch hohe Authentizität verströmende Cast bewegt sich wie ein einzelner Organismus durch den Film, dessen Glieder eigenwillige Entscheidungen treffen mögen, die im Ganzen aber einer Linie folgen.
Im Nachhall hinterlässt „Die Erde ist ein sündiges Lied“ dann doch eine gewisse Leere, weil man nicht so recht weiß, wie man umzugehen hat mit den drastischen, bisweilen auch provozierenden Bildern. Das hat auch damit zu tun, dass eine gewisses Gefühl der Handlungsunfähigkeit bewusst suggeriert wird. So unterkühlt der Blick auf diese fast außerirdisch wirkende Parallelwelt im finnischen Norden erscheinen mag – die Frustration, die bei ihrer Betrachtung entsteht, ist in jedem Fall real.
Informationen zur Veröffentlichung von “Die Erde ist ein sündiges Lied”
Drop Out #042
Das Glück war Bildstörung zuletzt nicht gerade wohlgesonnen. Der Filmverlag aus Köln hatte sich in den letzten Jahren darauf konzentriert, diverse Filmschätze aus dem Ostblock zu bergen, viele davon mit Kriegsthematik… als Russland einen leider nur allzu realen Krieg in der Ukraine begann, der die Welt auch mehr als ein Jahr später immer noch in Atem hält. Eigentlich sollte man meinen, dass entsprechende Filme gerade in diesen Zeiten besondere Relevanz genießen, doch die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass die Nachfrage anderen Gesetzen folgt; denn in Kriegszeiten verlangt das Volk nach tröstlichen Komödien und Alltagsstoffen mit einfacher Handlung.
Zwei Monate nach Kriegsbeginn erschien mit „The Painted Bird“ im Mai 2022 das bis dato letzte Lebenszeichen aus der DropOut-Serie. Danach war erst einmal lange Zeit Funkstille. Jetzt, ein gutes Jahr später, meldet sich Bildstörung mit der neuesten Ausgabe zurück; einem Werk, in dem jegliches Kriegsgeschehen passenderweise völlig unsichtbar ist. Weiter entfernt von der Front könnte man gar nicht sein als in diesem namenlosen Dorf aus Rauni Mollbergs „Die Erde ist ein sündiges Lied“. Allerdings: Leichter zu verdauen als die zuletzt veröffentlichten Antikriegsfilme ist dieses Drama keineswegs.
Bildstörung bleibt also auch unter geänderten gesellschaftlichen Vorzeichen dem eigenen Anspruch treu, die reine Unterhaltung hintenan zu stellen und auf kontroverses Qualitätskino zu setzen, das von besonderer künstlerischer und thematischer Relevanz ist. Die hier besprochene Blu-ray/DVD-Edition (eine Doppel-DVD-Ausgabe steht natürlich auch wieder alternativ zur Auswahl) erfüllt also nicht einfach „nur“ den Auftrag, das Filmdebüt des finnischen Regie-Querulanten erstmals überhaupt in Deutschland verfügbar zu machen; sie liefert außerdem nebenbei quasi einen Abriss der finnischen Filmgeschichte.
Die Verpackung
Äußerlich ist alles so wie immer. Als Verpackung dient wieder ein stabiles Scanavo Case nach DVD-Standard, verstaut in einem Schuber mit zusätzlichem Umschlag. Bereits bei den letzten fünf Ausgaben war der Spine komplett in Blau gehalten, so auch hier wieder, wobei die Schrift diesmal in Gelb gedruckt ist – das war bisher nur bei „Kin-Dza-Dza“ der Fall. Auf der Vorderseite findet man neben dem obligatorischen FSK-Logo (hier mit der blauen 16) und einem Blu-ray-Button einen Hinweis auf die Inhalte der Disc – offenbar befindet sich auf der Bonus-DVD ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Dinosaurier“. Dazu später mehr. Nehmen wir den Umschlag ab, dann legen wir den Pappschuber frei… und das Cover-Artwork darf jetzt richtig atmen. Das Blu-ray-Blau des Umschlags ist verschwunden, stattdessen macht sich sattes Moosgrün auf dem Spine und am oberen und unteren Zierrahmen breit. Die Farbgebung mag auf den ersten Blick an die Uniform von Großvaters Waldhorn- und Waidmannsverein erinnern, aber sie ist perfekt auf die ebenfalls dunkelgrünen Tannenwipfel im unteren Bereich des Artworks abgestimmt, das somit quasi über den Rand zu treten scheint. Die gedeckt gelbe Farbe des Filmtitels harmoniert wiederum wunderbar mit den beleuchteten Spitzen der Tannen.
Was das Artwork als solches angeht, kann man sich darüber streiten, ob es die Stimmung des Films wirklich adäquat einfängt. Von dem schwarzen Sternenhimmel, der zwei verschlungene Personen einrahmt wie den Vollmond, erwartet man sich vielleicht eher eine Art magischen Realismus mit einer Spur Heidi-Romantik. Dann wäre man aber völlig auf dem falschen Dampfer. Nachtszenen gibt es ohnehin kaum welche, und generell fällt die Beleuchtung im Film auch ganz anders aus. Allzu viele Motive scheint es aber zum Film nicht zu geben, da erfüllt diese mutmaßliche Neukreation ihren Zweck, zumal sie zumindest erfolgreich Erwartungen an einen anspruchsvolleren Autorenfilm weckt (wenn auch vielleicht eher an einen solchen aus der Schweiz oder aus Österreich als aus Finnland).
Weil das Artwork bereits auf dem Schuber seinen Platz findet, wird die verfügbare Fläche des Einlegers in der Scanavo-Hülle wieder nach Herzenslust mit Szenen aus dem Film dekoriert. Beim Außendruck hat man sich für die Rückenansicht von Hauptdarstellerin Maritta Viitamäki entschieden. Ein Schuh wird draus, wenn man das Backcover als Puzzleteil hinzunimmt: Hier betrachtet sich die Nackte nun in einem zerbrochenen Spiegel, was einen seltenen Moment der Selbstreflexion bedeutet, derer sich die Charaktere im Film nicht viele gönnen. Auf der anderen Seite findet man eine weitere Szene mit Viitamäki, in der sie sich von einem Mann im Sonntagsanzug entfernt. Die Discs liegen leicht versetzt übereinander auf der rechten Innenseite auf zwei absolut rüttelfesten Aufsteckern, während links das farbig gedruckte Booklet im gewohnten Großformat eingeklammert ist. Dessen Front und Rücken ergibt ein Motiv, das dem Spiegel-Motiv vom Scanavo Case ähnelt, nur dass sich hier keine junge nackte Einheimische im Spiegel betrachtet, sondern zwei alte Einheimische gegenseitig, während sie vor dem Fenster stehen.
Die Blu-ray
Befassen wir uns aber – aus gutem Grund – erst später mit dem Inhalt des Booklets und kommen zunächst einmal zur Blu-ray mit dem Hauptfilm. Die kommt völlig barebone daher, das heißt, eine Bonus-Abteilung sucht man in dem recht kleinen Menü vergebens. Lediglich die Auswahlpunkte „Film“, „Kapitel“ und „Ton“ stehen zur Verfügung. Im Hintergrund laufen Szenen aus dem Film, dazu erklingt der recht minimalistische Soundtrack, der eigentlich nur aus dem Abspann-Stück besteht.
Das Bild
Wenn „Die Erde ist ein sündiges Lied“ in Rezensionen als naturalistisch bezeichnet wird, dann hat das zu großen Teilen auch mit seiner rauen Farbgebung zu tun. Erdige Töne in Holzstrukturen, Mauerstein und Stoffen tragen zur Erdgebundenheit des Films bei, die sich ja auch schon im Filmtitel niederschlägt und erst recht im Handeln der Figuren. Die einzigen leuchtenden Komponenten sind im Grunde der Schnee in den Wäldern und die farbenfrohe Kleidung der Samen, beides Elemente, die Mollberg bewusst als Kontraste von außerhalb des Dorfes einsetzt, die noch nicht vollständig mit dessen Verdauungssystem verarbeitet wurden. Einige Szenen wurden bei der Lichtsetzung einer auf- oder untergehenden Sonne gedreht, was zu spektakulären Farbspielen im Rot-Orange-Spektrum führt. All das überträgt die brandneue Abtastung praktisch makellos, was den Film in der vorliegenden Präsentation trotz der allgegenwärtigen Hässlichkeit zu einem Augenschmaus macht.
Ton und Untertitel
Der finnische Originalton wiederum weist Eigenschaften auf, wie man sie auch aus der ganz frühen Ton-Ära kennt. Dem Klang der Stimmen wohnt etwas Abgehangenes inne, sie wirken oft stumpf und wenig räumlich, aber dafür authentisch und irgendwo auch passend zum Geschehen. Das Format ist Linear PCM 2.0, es dürfte sich aber wohl um Monoton handeln, der auf zwei Kanäle übertragen wurde. Eine deutsche Synchronisation ist wie zumeist bei den selteneren Filmen im Bildstörung-Programm nicht verfügbar. Da „Die Erde ist ein sündiges Lied“ in den 80ern mal bei den Öffentlich-Rechtlichen lief, existiert wohl eine deutsche Tonspur, die es aber leider aus lizenzrechtlichen Gründen nicht auf die Disc geschafft hat. Deutsche Untertitel kann man aber auf Wunsch selbstverständlich dazuschalten.
Der Audiokommentar
Ein Extra hat sich dann doch auf die Blu-ray verirrt, und zwar der Audiokommentar mit Regieassistentin Pirjo Honkasalo und Kameramann Kari Sohlberg. Dass sich die Beiden weder vorstellen noch ein Fazit ziehen, passt irgendwie zu dem natürlichen Fluss, den auch die Filmhandlung verfolgt. Sie scheinen sich noch lebhaft an Details und beteiligte Personen zu erinnern, was auf die vermutlich recht aufwühlenden Dreharbeiten unter Mollberg hindeutet. Wie bei Kommentaren mit Beteiligten üblich, werden viele Hintergründe zur Realisierung der Szenen geteilt. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Umgang mit Laien-Darstellern, der sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich bringe; so müsse man Laien im Gegensatz zu Theaterschauspielern wohl kaum mehr die Handgriffe beibringen, die für das Landleben nötig seien, andererseits seien sie aber unzuverlässiger als Profis und zögerten nicht, ihre Teilnahme auch mal kurzfristig abzubrechen. Interessant sind auch die Exkurse zur finnischen Filmindustrie oder zum finnischen Lebensalltag, wenn die Heizgewohnheiten der Finnen diskutiert werden und der Sinn der EU-Einschränkungen zu Schlachtungen im Freien in Frage gestellt wird.
Die Bonus-DVD
Ob man sich nun für das Blu-ray-Set oder das DVD-Set entschieden hat, die Bonus-Disc ist in beiden Fällen eine DVD. Deren Herzstück ist ein eigener Film, und zwar die 87-minütige Dokumentation „Dinosaurier“, die wir an dieser Stelle näher vorstellen möchten.
Dokumentation: Dinosaurier
Originaltitel: Dinosaurus__Herstellungsland: Finnland__Erscheinungsjahr: 2021__Regie: Veikko Aaltonen__Darsteller: Miia Tervo, Markku Koski, Juho Kuosmanen, Selma Vilhunen, AJ Annila, Jussi Mäkelä, Annti Alanen, Veikko Mard, Esa Vuorinen, Anja Pohjola, Eila Werning, Pirjo Honkasalo, Rauni Mollberg (Archiv), Renny Harlin (Archiv) u.a. |
Wen man auch fragt: Die Erinnerung an den 2007 gestorbenen finnischen Regisseur Rauni Mollberg scheint all jene zu schmerzen, die in ihrem Leben einmal beruflich oder privat mit ihm zu tun gehabt haben. Nicht etwa, weil er nicht mehr da ist; sondern weil er ein anstrengender, ein schwieriger, ein unangenehmer Charakter war. Ein Arschloch geradeheraus, wenn man so manchen fragt.
Die Anzahl der Menschen, die 14 Jahre nach seinem Tod trotzdem bereit waren, über ihn zu sprechen, versetzt dann allerdings in Erstaunen. Mindestens acht Regisseure, sieben Darsteller und elf Kameramänner, Produzenten oder Szenenbildner melden sich für die Rauni-Mollberg-Dokumentation „Dinosaurier“ zu Wort, dazu noch diverse Journalisten und Filmwissenschaftler, Mitarbeiter und CEOs von Kino- und TV-Anstalten sowie Mollbergs Lebensgefährtin und seine Tochter. Nicht zu vergessen denjenigen, der das ganze Projekt angeleiert hat: Veikko Aaltonen, inzwischen selbst ein Regisseur, der keine Tabus kennt, damals Co-Autor bei Mollbergs Filmen „Milka“ (1980) und „Der Unbekannte Soldat“ (1985), und nun auch Regisseur, Autor und Erzähler der Dokumentation über seinen eigenen Mentor.
Obwohl sie ausnahmslos alle im Konsens schwelgen, wenn sie Mollbergs komplizierte Persönlichkeit beschreiben, ist offenbar etwas aus den Erfahrungen zurückgeblieben, das es wert ist, mit der Nachwelt geteilt zu werden. Wenn es nach Aaltonen geht, hängt sogar die gesamte Geschichte des finnischen Films an der Vita Mollberg, denn sein Wirken wird in „Dinosaurier“ zum Verbindungsstück zwischen den Anfängen der heimischen Filmindustrie und ihrer derzeitigen Form.
Dabei arbeitet Aaltonen konkrete Einflüsse Mollbergs auf spätere Regisseure im filmanalytischen Sinne allerdings kaum heraus. Von den drei einflussreichsten Werken „Die Erde ist ein sündiges Lied“, „Milka“ und „Der Unbekannte Soldat“ werden viele Ausschnitte gezeigt, aber nur wenige Brücken geschlagen zu ästhetisch artverwandten Werken, die von ihnen beeinflusst gewesen sein könnten. Eher ist er daran interessiert, die gnadenlose Arbeitsmethodik darzulegen, die er selbst aus erster Quelle gelernt hatte. Eine Philosophie der Rücksichtslosigkeit kristallisiert sich mit jedem neuen Interviewpartner heraus, der ein weiteres Teil zum Gesamtbild beiträgt, um das zu schaffen, worin Mollberg offenbar selbst ein Meister war: die Stärken und Schwächen des Gegenübers gnadenlos offenzulegen.
Rehabilitation erfährt „Molle“, wie er in den Gesprächen oft genannt wird, vor allem durch die bieder, geist- und bedeutungslos gewordene restliche Filmlandschaft Finnlands, die den Befragten zufolge auch das Ergebnis eines maroden Filmfördersystems sei, das Fördergelder entgegen ihres eigentlichen Auftrags verteile – ein Vorwurf, den man gelegentlich auch hiesigen Anstalten in Deutschland macht. In einer solchen Umgebung brauche es eben zwingend auch von der eigenen Kunst überzeugte Tyrannen wie Mollberg, auch wenn gleichzeitig die These vertreten wird, dass man am Set regieren und Grenzen ausloten kann, ohne die eigenen Mitarbeiter zu unterdrücken.
Was das Ganze mit einem Dinosaurier zu tun hat, wird jedenfalls auf Anhieb klar. Damals geltende Gesetze des Stärkeren haben sich längst zugunsten neuer Überlebensstrategien verschoben… und wäre Rauni Mollberg nicht bereits seit einigen Jahren tot, so wäre er heute trotzdem mehr denn je ein Relikt aus der Kreidezeit. Sofern man sich für Archäologie interessiert, liefert „Dinosaurier“ jedenfalls dank vieler unverblümter Worte einen umfassenden Eindruck davon, wie so ein Tyrannosaurus Rauni auf Beutejagd gedacht haben muss.
Interviews mit Schauspielerin Maritta Viitamäki und Szenenbildner Seppo Heinonen
In der Dokumentation kommen viele der zahlreichen Interviewpartner jeweils nur für wenige Sätze zu Wort, deswegen ist es schön, dass die DVD zusätzlich noch zwei längere Interviews an Bord hat, die von Aaltonen geführt wurden: ein Gespräch mit Maritta Viitamäki, Hauptdarstellerin von „Die Erde ist ein sündiges Lied“, sowie eines mit Seppo Heinonen, der für das Szenenbild und weitere Aufgaben am Set verantwortlich war. Viitamäki war zum Drehzeitpunkt völlig unerfahren, was Filmproduktionen angeht, hatte allerdings schauspielerische Ambitionen und war bereit, dafür große Herausforderungen anzunehmen. Sie arbeitete zu jener Zeit auf einer Fähre und wurde dort vom Regisseur entdeckt. Das Gespräch dreht sich hauptsächlich darum, wie es zu dieser Begegnung kam und was für ein Gefühl es für ein junges Mädchen von nicht einmal 20 Jahren gewesen sein musste, aus dem Nichts eine derart herausfordernde Rolle anzunehmen. Wie bereits im Film präsentiert sie sich auch im Interview knapp 50 Jahre später als äußerst pragmatisch denkender Mensch, der mit schwierigen Situationen wie etwa dem allerersten Drehtag oder den vielen Nacktszenen problemlos zurecht kam, weil er die Dinge nicht allzu ernst nimmt. Dass Mollberg soziale Defizite im Umgang mit anderen Menschen hatte, ist auch ihr nicht entgangen (erneut fällt das Wort „Arschloch“), es scheint ihr aber gar nicht allzu viel ausgemacht zu haben.
Auch Heinonen ist überwiegend damit beschäftigt, zu erklären, wie er es so lange mit Mollberg aushalten konnte. Darüber hinaus lassen sich nicht allzu viele Informationen aus seinen Antworten ziehen, weil sein Interview mit knapp 16 Minuten deutlich kürzer ist als das mit Viitamäki (27 Min.) und er sich darüber hinaus viel Zeit nimmt, seine Sätze zu formulieren. Dass sein Regisseur ein Pessimist, Pedant und Perfektionist war, kann er allerdings durchaus bestätigen.
Damit enden die Extras, zumindest wenn man nicht die Trailershow zum Programm von Bildstörung mit dazu zählen möchte. In der reinen Anzahl mögen das nicht viele sein, aber laufzeittechnisch wird man ordentlich bedient und nicht nur bei der Auswahl des Hauptfilms, sondern auch der Extras setzt Bildstörung wieder vor allem auf Qualität. Der Dokumentarfilm erweist sich als äußerst bereichernder Einblick in die finnische Filmindustrie und das Wirken von einem seiner Enfants Terribles.
Das Booklet
Zuletzt sollten wir noch einmal auf das 20-seitige Booklet zurückkommen. Die Dokumentation auf der Bonus-DVD wollten wir vorher erwähnt haben, denn sie ist es und nicht etwa der Hauptfilm, auf die sich Olaf Möller in seinem Essay „Zerbrochene Fenster“ in erster Linie bezieht. Der Text entstand auch nicht für diese Edition, sondern erschien zuerst 2020 in einer Ausgabe des finnischen Filmmagazins „Filmihullu“ (dt. etwa: „Filmliebhaber“) und wird vom Autoren selbst in einem neu verfassten Nachwort als möglicherweise erster Artikel zu „Dinosaurier“ bezeichnet. Über die typisch verklausulierten syntaktischen Konstruktionen, die auf einer gewissen Ebene aber trotzdem sehr direkt mit dem Leser kommunizieren, taucht Möller tief in die Mechanismen der finnischen Filmindustrie und analysiert die Dokumentation Aaltonens, den er offenbar sehr bewundert, quasi von innen heraus. Aaltonen selbst hätte die Quintessenz seiner eigenen Arbeit wohl kaum effizienter extrahieren können. Der Text ist wie bei Möller üblich verkopft, aber nicht trocken; eine persönliche Anekdote über seine Begegnung mit Rauni Mollberg in einem Kölner Kino vor einigen Jahrzehnten vermeidet beispielsweise die allzu einseitige Theoretisierung, und „Dinosaurier“ wird bei weitem nicht nur aus einer Perspektive beleuchtet. Die vielen Semikola, Bindestriche und Nebensätze, mit denen die Gedanken des Autoren frei fliegen, muss man stilistisch schon mögen, um sie verdauen zu können, inhaltlich ist das aber schon sein eigenes Level.
Zur Abrundung äußert sich der finnische Regisseur Heikki Huttu-Hiltunen noch „zur Sprache in ‘Die Erde ist ein sündiges Lied’“. Mehr als ein oberflächlicher Abriss zur Herkunft der angewendeten Dialekte kann auf zwei Seiten natürlich nicht geboten werden, dennoch müht sich der Autor um eine möglichst umfassende Beschreibung ihrer Eigenschaften und liefert sogar zwei Beispiele, um seine Erörterungen bildhafter zu machen. Geschmückt sind beide Texte mit zahlreichen Portrait- und Szenenfotos in Farbe, auf der letzten Seite folgen dann noch Credits und Danksagungen. Ein zufriedenstellender Schlussstrich unter einer wie immer liebevoll aufbereiteten Edition zu einem schwierigen, aber zweifellos interessanten Film.
Bildergalerie
Sascha Ganser (Vince)
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