Kenneth Branagh inszeniert „Mord im Orient-Express“ als Franchise-Start für die Poirot-Interpretation des Regisseurs und Hauptdarstellers. Ein Starensemble, zu dem unter anderem Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Judi Dench, Willem Dafoe und Penélope Cruz gehören, reist mit dem titelgebenden Zug, als der titelgebende Mord geschieht. An Bord ist auch Hercule Poirot, der nach dem Täter sucht, als der Express im Schnee feststeckt.
Originaltitel: Murder on the Orient Express__Herstellungsland: USA/Malta__Erscheinungsjahr: 2017__Regie: Kenneth Branagh__Darsteller: Kenneth Branagh, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Lucy Boynton, Sergei Polunin, Marwan Kenzari, Olivia Colman, Manuel Garcia-Rulfo, Tom Bateman u.a. |
Vielleicht zog Kenneth Branagh, der Shakespeare-Fan und Anhänger klassischer Stoffe, mehr Erfahrungen aus seiner Regieverpflichtung für „Thor“ als man auf den ersten Blick denken mag, inszenierte er doch die Neuauflage von „Mord im Orient-Express“ als überraschend zugkräftiges Franchise-Material fürs neue Blockbuster-Publikum.
Dementsprechend steht der vom Regisseur höchstselbst verkörperte Detektiv Hercule Poirot fast noch mehr im Mittelpunkt als der Fall. Der strengt nicht nur seine kleinen grauen Zellen an und ist der etwas sonderbare Belgier, sondern hat etwas von den Superdetektiv-Attributen aus Guy Ritchies „Sherlock Holmes“. Schon allein deshalb gibt es hier auch einen neu erfundenen Prolog in Jerusalem, in dessen Verlauf Poirot mit Leichtigkeit ein Verbrechen mit Bedeutung für die drei großen Weltreligionen aufklärt, den Übelwicht durch einen geschickt platzierten Spazierstock in die Falle lockt und noch dabei seine Marotten mit Blick auf Balance und Perfektion vorführt. Dass ihm dies noch mehr Ausbruchsmöglichkeiten aus dem Zugsetting und Panoramabilder eines größtenteils CGI-animierten Jerusalem ermöglicht, dürfte für Branagh ein optisches Plus gewesen sein.
Eigentlich will der Ermittler Urlaub machen, doch ein weiterer Fall verlangt seine Anwesenheit in London. Durch Glück und die Hilfe seines Bekannten Bouc (Tom Bateman) kann er noch einen Platz im eigentlich ausgebuchten Orient-Express ergattern, dessen Passagiere er teilweise schon vorher kennengelernt hat. Natürlich gibt dies schon mal Gelegenheit zur Einführung verschiedener Charaktere, erweitert mit seinen Intermezzi in Istanbul aber den optischen und ausstattungstechnischen Rahmen des Films ebenso wie den Raum für Poirot, der hier beispielsweise um eine (wahrscheinliche verstorbene) Liebschaft trauert, deren Schicksal aber vorerst nicht aufgenommen wird. Der erzählerische Rahmen für Franchise-Material wird durch Branagh geschaffen – der Erfolg des Films, der mit gut 350 Millionen Dollar das Siebenfache seines Budgets einspielte, gibt ihm letztendlich Recht.
Auf der Reise von Istanbul aus geschieht er dann auch, der titelgebende Mord im Orient-Express, der bemerkt wird, als der Zug durch eine Lawine auf der Strecke gestoppt wird und man auf die Bergungscrew warten muss. In der Zeit will Poirot den Fall aufklären, kann der Täter doch nur unter den Passagieren sein, die gerade nicht wegkönnen…
Schaut euch den Trailer zu „Mord im Orient Express“ an
Kohle für Krimistoffe der Marke Agatha Christie auf beengtem Raum mit dialoglastiger Ausrichtung – das war für einen Quentin-Tarantino-Film wie „The Hateful 8“ Mitte der 2010er noch eine Option, für Branagh war es sicherlich kein leichtes Unterfangen. Mit einem Budget von 55 Millionen Dollar bewegt er sich für eine Großproduktion auch eher im unteren Mid-Budget-Bereich, macht aber Zugeständnisse für jüngere, moderner orientierte Zuschauerschichten. So wird nicht nur ein starker Fokus auf den Protagonisten gelegt, auch in zwei kleinere Actionszenen in Form einer Verfolgungsjagd und eines Zweikampfes wird Poirot verwickelt. Erstere ist eher sinnlos, da der Gejagte eh eigentlich nicht groß weg kann und eher stürzt, als dass es durch den Detektiv zur Strecke gebracht wird, Actionszene Nr. 2 hat schon mehr Daseinsberechtigung, ist aber auch in erster Linie da, um noch ein paar Schauwerte in den Film zu bringen. Letztere gibt es auch in Form von einigen Außen- und Panoramaaufnahmen, die zwar ganz hübsch anzusehen sind, deren CGI-Qualität allerdings nicht verbergen kann, dass „Mord im Orient-Express“ eher zu den preiswerteren Studiofilmen zählt.
Nicht lumpen hingegen ließen sich Branagh und seine Finanziers von 20th Century Fox in Sachen Besetzung. Ähnlich wie der ersten Kinoadaption des Stoffes durch Sidney Lumet wurde hier ein All-Star-Ensemble aus bekannten Namen und Gesichtern versammelt, darunter Penelope Cruz als Missionarin, Willem Dafoe als österreichischer Professor und Johnny Depp als unsympathischer Geschäftsmann. Angesichts der erwähnten Fixierung auf Poirot selbst bekommen allerdings nicht alle die gleiche Screentime. Ein Ensemblemitglied muss als Mordopfer abtreten, bei drei Verdächtigen wird das Verhör in Form einer Parallelmontage abgefrühstückt, während derer jeder einzelne nur wenige Dialogzeilen hat. Die Gouvernante Mary Debenham (Daisy Ridley) dagegen wird mehrfach in Einzelverhören in die Zange genommen, wobei der Film diese gern in den Schnee vor den Zug oder einen Gepäckwagen verlagert, um noch optisch etwas zu bieten, was aber leider vom Gesprächsinhalt etwas ablenkt. Manchmal gelingen Branagh und seinem Kameramann Haris Zambarloukos („Meg 2: Die Tiefe“) auch einige schöne, unterstützende Kniffe der visuellen Art, etwa wenn Poirot die Verdächtigen im Finale in einer Sitzordnung versammelt, die an das berühmte Gemälde vom letzten Abendmahl erinnert.
Den eigentlichen Plot des Romans gibt die 2017er Verfilmung trotz einiger Änderungen, Ergänzungen und Figurenzusammenlegungen weitestgehend werkgetreu wieder, konzentriert sich leider jedoch aufgrund der erwähnten Zusatz-Schauwerte und Poirot-Franchise-Ambitionen nicht ausschließlich darauf. So geschieht der titelgebende Mord erst, wenn bereits ein gutes Drittel des Films um ist, während manche Befragung von Verdächtigen bzw. Zeugen vergleichsweise schnell abgehandelt wird. Dabei ist es krimi- bzw. Christie-typisch so, dass so gut wie jede Person an Bord des Zuges etwas zu verbergen hat, dass sich immer mehr möglich Gründe auftun, warum jemand das Opfer über den Jordan geschickt haben könnte. Schließlich erweist sich der Gemeuchelte alsbald als ziemlich hassenswerte Person mit reichlich Feinden. So ist „Mord im Orient-Express“ meist dann am stärksten, wenn er auf die typischen Christie-Tugenden baut, dass jeder etwas zu verbergen hat, dass hinter jeder Lüge eine Wahrheit steckt und umgekehrt.
Dass Branagh sich ausgerechnet diesen Stoff als Franchise-Starter aussuchte, ist durchaus bemerkenswert. Einerseits gehört der Titel sicherlich zu den bekanntesten Poirot-Geschichten und bietet angesichts seines Settings auch die erwähnten Möglichkeiten für optische Schauwerte. Andrerseits handelt es sich hierbei um einen der Fälle des Meisterdetektivs, der mit einer besonders komplexen Auflösung daherkommt, weshalb all die Ablenkungen vom Mainplot dem Ganzen etwas schaden. Manches Indiz und manche falsche Fährte kann da gar nicht richtig ausgespielt werden, auch das Mitraten ist schwerer als bei anderen Murder-Mystery-Werken, da man sehr viele Informationen in sehr kurzer Zeit erhält. Doch wenn Poirot das Ganze am Ende auflöst, dann verfehlt „Mord im Orient-Express“ seine Wirkung selbst dann nicht, wenn man bereits damit vertraut ist. Branagh filmt das als starken, tragischen Moment, als Gipfel vieler fataler Entwicklungen, was unter die Haut geht.
Sowieso gelingt dem Regisseur die Balance zwischen ernster Mordgeschichte und humoristischen Einsprengseln überraschend gut. Poirot wird mit genug Ironie präsentiert, um nicht rein als Besserwisser-Fatzke zu erscheinen, aber auch nie über die Maßen lächerlich gemacht. Seine Kauzigkeit wird durch einen wahrhaft pompösen Schnauzbart unterstrichen, der das Gesichtshaar sämtlicher Kino- und TV-Vorgänger in den Schatten stellt. Kleine Witze sind ebenfalls drin, etwa wenn ein Fahrgast „Hercule“ als „Hercules“ ausspricht und der Detektiv ihn darauf verweist, dass er keine Löwen wie in der Sage zähme. Kenneth Branagh („Tenet“) verkörpert die Spürnase dann auch mit sichtlicher Begeisterung, was durchaus rechtfertigt, dass er sich hier ziemlich in den Mittelpunkt inszeniert und auf die Sequeltauglichkeit seiner Figur vertraut.
Allerdings geht dies zulasten des beeindruckenden Ensembles, das mehr oder minder dankbare Rollen abbekommen hat. Johnny Depp spielt erfreulicherweise mal nicht den schrulligen Clown, auf den er nach „Fluch der Karibik“ abonniert war, Daisy Ridley („Star Wars IX: Der Aufstieg Skywalkers“) und Leslie Odom jr. („Glass Onion“) profitieren davon, dass sie die ersten Mitpassagiere sind, auf die Poirot trifft und Michelle Pfeiffer („Ant-Man and the Wasp: Quantumania“) bekommt ein paar großartige Auftritte spendiert. Josh Gad („Die Schöne und das Biest“) und Willem Dafoe („Dead for a Dollar“) haben auch noch ein paar dankbarere Parts bekommen, während Judi Dench („Fluch der Karibik 4“), Olivia Colman („Hot Fuzz“), Penelope Cruz („The 355“), Derek Jacobi („Gladiator“) und Manuel Garcia-Rulfo („6 Underground“) meist nur eine nennenswerte Szene pro Nase abbekommen. Besonders arm dran sind Sergei Polunin („Red Sparrow“) und Lucy Boynton („I Am the Pretty Thing That Lives in the House“) als Aristokratenpaar: Schon an der Besetzung merkt man, dass ihre Figuren bloß bessere Nachgedanken sind, sie haben nur wenige Minuten auf der Leinwand, sodass man oft zu vergessen droht, dass sie überhaupt auf der Passagierliste des Orient-Express stehen.
Aber trotz seiner Schönheitsfehler gelingen Branaghs „Mord im Orient-Express“ schon einige Spagate: Zwischen klassischem Whodunit und den Schauwert-Ansprüchen des modernen Blockbusterkinos, zwischen humoristischer Auflockerung und Mordgeschichte mit ernstem Hintergrund, zwischen Poirot-Franchise-Start und eigenständiger Geschichte. Zumindest in letzterer Hinsicht ist die Balance allerdings etwas unausgeglichen, da der komplexe Plot bisweilen etwas schnell abgehandelt wird und all die klangvollen Namen auf der Passagierliste ein wenig stiefmütterlich behandelt werden. Stil und Charme hat das Unterfangen schon, könnte aber dramaturgisch ausgefeilter sein. In der letzten Szene kündigen Branagh und Drehbuchautor Michael Green („Jungle Cruise“) übrigens gleich „Tod auf dem Nil“ als mögliches Sequel an – der Erfolg sollte ihnen den Weg dafür ebnen.
20th Century Fox hat „Mord im Orient-Express“ in Deutschland auf Blu-Ray und DVD veröffentlicht, ungekürzt ab 12 Jahren freigegeben. Auf DVD gibt es einen Audiokommentar von Kenneth Branagh und Michael Green, eine Bildergalerie, entfallene Szenen und zwei Featurettes als Bonus, auf Blu-Ray zusätzlich sechs weitere Featurettes. Inzwischen wurde 20th Century Fox ja von Walt Disney gekauft, weshalb der Film auch im Streamingportfolio von Disney+ zu finden ist.
© Nils Bothmann (McClane)
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