Originaltitel: Ruben Brandt, Collector__Herstellungsland: Ungarn__Erscheinungsjahr: 2018__Regie: Milorad Krstić |
Irgendwo zwischen der zweidimensionalen Fläche einer gespannten Leinwand und den dreidimensionalen Wölbungen von Skulpturen und Statuen ergießt sich die Kunst wie ein Eimer Farbe über die Welt des Psychotherapeuten Ruben Brandt… und wird daraufhin selbst zur Kunst. Frank Duvenecks „Whistling Boy“ sitzt pfeifend im Hochgeschwindigkeitszug, während eine Schnecke an ihm hochkriecht, Vincent van Goghs Postbote wirft Fleischpakete aus dem Flugzeug und Tizians Venus von Urbino verwandelt sich in eine keifende Furie. Dazu fliegen einem die Kugeln von Andy Warhols doppeltem Elvis um die Ohren, während der mit dem Rücken zum Betrachter sitzende Protagonist aus Edward Hoppers „Nighthawks“ sich endlich umdreht und sein wahres Antlitz entlarvt, das wahrlich Fensterglas zerspringen lässt. All das betrachtet aus der Perspektive eines Selbstbildnis des Regisseurs, natürlich, denn: Kunst ist subjektiv, und vor allem ist sie selbstreferenziell.
Bis dato hatte der ungarische Künstler Milorad Krstić lediglich den 8-Minuten-Kurzfilm „My Baby Left Me“ (1995) als kleine Schneise auf der großen Zeitlinie des Mediums Film hinterlassen, einen krakeligen Zeichentrick mit spürbar osteuropäisch-experimentellem Einschlag, der sich wenig zurückhaltend mit den unerfüllten sexuellen Obsessionen eines Mannes befasste. Proportionen, insbesondere jene verschlungener Körper, wurden dabei bereits zuhauf in der Bewegung verschoben, die Verschiebung von Dimensionen hat sich Krstić jedoch für seinen ersten Spielfilm aufgehoben.
„Ruben Brandt, Collector“ mag mit seinem kantigen, jeglichem Realismus spottenden Art Design ähnlich exotisch in der von Disney & Co. dominierten Animationsfilmlandschaft hängen wie eine zerfließende Uhr am Ast eines Gemäldes von Dalí. Krstić jedoch bahnt sich seinen Weg zur Outsiderkunst zunächst einmal über seine Komfortzone. Das gesammelte Wissen des Studierten und Schaffenden über sein eigenes Element schlägt sich in einem Hagelsturm aus Zitaten nieder, die gerade zu Beginn, als die Story noch im Aufbau begriffen ist, regelrecht auf der Leinwand explodieren. Namen fallen wie Wasser im Starkregen, während die entsprechenden Objekte synchron eingeblendet werden, Wort und Bild tanzen einen wilden Tango auf der gesamten Klaviatur von der Anspielung bis zum konkreten Zitat, wobei keineswegs bei der Welt der Malerei, beziehungsweise der Ausstellungskunst eine Grenze gezogen wird; getanzt wird nämlich auch der Twist aus „Pulp Fiction“, Eiswürfel mit Hitchcock-Silhouette schwimmen im Drink und Rambos Messer hängt an der Wand. Wenn wir den Grundlagen von Freuds Selbstanalyse folgen, ist dieser Film vor allem der Versuch eines Künstlers, aus den Grenzen seines nativen Mediums in ein neues Medium auszubrechen. Aus Bild wird Bewegung, aus Oberfläche wird Raumtiefe. Der Sprung ins kalte Wasser.
Folgerichtig präsentiert sich die Animation als eine oftmals wilde bis ungelenke Melange aus klassischen 2D-Figuren, die in 3D-Hintergründe eingebettet werden, zum Leben erweckt durch wagemutige Kameraperspektiven, vom Ego-Shot bis zur Panorama-Einstellung, vom 2.5D wie in der berühmten Sidescroll-Kampfsequenz aus „Oldboy“ bis zum Dolly Zoom. Hier bewegt sich Krstić wie mit Schlittschuhen auf Spiegelglas. Was als Standbild jeweils von unglaublichem Einfallsreichtum zeugt, muss in der Bewegung erst noch reifen. Man spürt dem Dirigenten seine Unerfahrenheit an, zugleich aber auch seinen Mut, die Dinge etwas anders anzupacken als das Gros seiner Konkurrenten auf dem Markt.
Stilsicher ist er hingegen, wie zu erwarten, in der Konstruktion des von ihm erdachten Regelwerks für die Welt des Ruben Brandt. Naturgesetze genießen eher geringe Priorität, von einer akkuraten Abbildung einer wie auch immer definierten Realität sind wir stets mindestens ein zusätzliches Körperteil entfernt. Vor allem Picasso hat einen enormen Einfluss auf das Figurendesign ausgeübt. Köpfe scheinen rundum mit Gesichtszügen belegt, zusätzliche Augen oder ganze Augenpaare befinden sich am Hinterschädel oder lugen aus Hüten hervor. Im Profil ändern sich die Visagen der beiden wichtigsten Charaktere, inklusive Ruben Brandt selbst, in etwas Pferdeähnliches. Man wird augenblicklich an den völlig selbstverständlichen Anthropomorphismus der Zeichentrickserie „BoJack Horseman“ erinnert. Gelegentlich muss man auch an die ungewöhnlich abstrakt animierte Nickelodeon-Serie „Aaahh!!! Monster“ denken, deren fleischige, bezahnte Lippenwülste auf deformierten Abwandlungen menschlicher Körper einem hier auch manches Mal über den Weg laufen. Auch die Hintergründe lassen die Fantasie ohne Unterlass walten und erzählen von alten architektonischen Träumen, einem Büro beispielsweise, das von den Wänden bis zum Boden als Kubus in ein Aquarium eingefasst ist. Sogar Rückstände einiger avantgardistischer Point’n’Click-Adventures wie „Grim Fandango“ sind dadurch zu erahnen, zumal das Skript intensiv mit Problemstellungen und Lösungen arbeitet.
Die Herausforderung liegt darin, die übersprudelnde Kreativität sinnvoll zu kanalisieren. Der Balanceakt, beim Ansetzen der Flasche an das Gefäß links und rechts nicht zu viel zu verschütten, erweist sich dann auch als größte Schwäche des Films. Aber je besser man die Titelfigur kennenlernt, desto rückstandsloser lösen sich die vielen Kunstzitatkristalle im Drehbuch auf. Wo man in den ersten Minuten vor lauter Züge und Schienen vielleicht nur Bahnhof versteht, klinkt sich der Plot bald mit einer recht einfachen Rahmenhandlung ein: Den Künstler, es plagen ihn Alpträume, die von unterschiedlichen Kunstwerken verursacht werden. Ergo muss er die Kunstwerke stehlen, um seinen Frieden mit ihnen zu machen…
Ein Heist-Film also, auch noch einer der actionreichen Art. Wer meint, hier wird lediglich auf Leinwände gestarrt und intellektueller Blödsinn verzapft, der sieht sich getäuscht. Die heitere Sorglosigkeit der Heist- und gar der Eurospy-Filme der 60er Jahre wird mit quietschenden Reifen und fliegender Akrobatik in einem geradezu euphorisierenden Maß reproduziert und mit weiteren Jahrzehnten vermischt, mündend in einer direkten Referenz auf Peckinpahs „Convoy“. Es sind allerdings weniger die vielen versteckten Filmanspielungen in Form sentimentaler Andenken an Wänden und in Vitrinen, mit denen Krstić sein Verständnis für das Medium ausdrückt, sondern der beherzte Sprung durch die brennenden Genre-Reifen, mit allen wechselnden Gefühlen, die dabei ausgelöst werden.
Das Drehbuch bleibt derweil zweckmäßig und relativ linear (vielleicht um die Einschlagwirkung des ungebremsten Surrealismus ein wenig abzufedern), wird aber mit Rückblenden und dem steten Wechsel von internationalen Schauplätzen von Bond-Format (Paris, London, Florenz, Amsterdam, Berlin) und einem breiten Repertoire an Figuren stets im Fluss gehalten. Der Humor ist dabei spröde, aber geschmackvoll, die Musik lullt ein wie ein sanft gleitender Fahrstuhl, schmiegt sich aber stets passend an das turbulente Treiben auf dem Bildschirm, kulminierend in dem Höhepunkt „Oops, I did it again“, einem Britney-Spears-Song, neu interpretiert im geschmeidigen Lounge-Blues-Stil.
Man mag sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es sein muss, im Alter von 66 Jahren ohne großes Studio im Rücken und mit wenig Erfahrung im Geschäft ein solches Projekt zu stemmen. Zwischen „My Baby Left Me“ und „Ruben Brandt, Collector“ liegen 23 Jahre. Ohne zu wissen, was Milorad Krstić in der Zwischenzeit in seinen Hauptbeschäftigungsfeldern alles getrieben hat, würde es doch nicht verwundern, wenn viel Vorbereitung in seinen ersten Film mit abendfüllender Laufzeit geflossen wäre. Die Kraft muss er aus den Erfahrungen seiner gelebten Jahrzehnte geschöpft haben; aus seiner Ausbildung, seinen Interessen, seiner kulturellen Prägung. Es ist ein Film über den Künstler selbst, eine womöglich nicht reproduzierbare, einmalige Angelegenheit. Nicht immer frei von Prätention, manchmal zu sehr um die verarbeiteten Einflüsse zirkulierend, ohne mit ihnen semiotisch auf neue Inhalte verweisen zu können. Auch technisch nicht immer bis ins Detail perfekt, drohen die digitalen Hintergründe doch manchmal Linien und Struktur zu verschlingen. Dessen ungeachtet bekommt man mit „Ruben Brandt, Collector“ einen besonders schillernden Vertreter des avantgardistischen Animationsfilms, wie er aufgrund der Vormachtstellung herkömmlicher Computeranimationsfilme leider zu selten in den Diskurs gebracht wird.
Schaut in den Trailer von “Ruben Brandt, Collector”
Informationen zur Veröffentlichung
Anfang 2021, etwa drei Jahre nach Produktion, erschien „Ruben Brandt, Collector“ über Indeed Film auf dem deutschen Markt. Nicht nur handelt der Film von Kunstwerken, auch bei der Verpackung der hier besprochenen Limited Edition kann man schon von einem kleinen Kunstwerk sprechen, handelt es sich doch um ein edel gestaltetes 2-Disc Mediabook (Blu-ray und inhaltsgleiche DVD) in Lederoptik mit Goldfolien-Schriftzug, das noch einmal zusätzlich mit einem dünnen O-Ring-Schuber umfasst ist. Der Film selbst schaut zumindest auf der Blu-ray auch prächtig aus und hat mit seinem DTS-5.1-Ton in Deutsch und Englisch auch satte Tonspuren zu bieten.
In Sachen Extras musste man sich hingegen etwas strecken, um dem Käufer etwas bieten zu können. Trailer in Deutsch und Englisch, ein gerade mal zweieinhalbminütiges Making Of (das eigentlich eher ein Entstehungsvideo einer Sequenz darstellt) und ein aus Filmszenen montierter Clip mit musikalischen Stücken aus dem Soundtrack sowie eine „Art Gallery“, das sind alles Extras, die eher aus dem Hauptfilm seziert wurden anstatt neues Material zu bieten. Immerhin aber ist der Kurzfilm „My Baby Left Me“ mit dabei, der nicht nur für sich genommen sehenswert ist, sondern auch dabei hilft, den visuellen Stil des Hauptfilms besser nachempfinden zu können. Mit dabei ist außerdem ein XXL-Booklet mit satten 48 Seiten. Neben diversen Illustrationen ist darin unter anderem ein ausführliches Interview mit dem Regisseur zu finden. Wer auf die schicke physische Aufmachung verzichten kann, wird natürlich auch bei den gängigen Streamingportalen fündig.
Sascha Ganser (Vince)
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