Originaltitel: Safety Last!__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 1923__Regie: Fred C. Newmeyer, Sam Taylor__Darsteller: Harold Lloyd, Mildred Davis, Bill Strothers, Noah Young, Westcott Clarke, Mickey Daniels, Anna Townsend u.a. |

Stummfilm-Star Harold Lloyd hat’s eilig mit seinem gesellschaftlichen Aufstieg in „Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ aka „Safety Last!“.
Wenn ein Stummfilm seine Bilder sprechen lässt
Manchmal braucht es kein Poster. Da reicht ein einzelnes Frame des Films, um den Film abzubilden. Das perfekte Timing vorausgesetzt, lässt sich die Bewegung, das „Move“ im „Movie“, so einfrieren, dass die Intension des dahinter liegenden Werks, im besten Fall mit ihm sogar der gesellschaftliche Kontext, sichtbarer gemacht wird als es ein klassisches Poster je könnte.
Harold Lloyd, wie er sich an den Zeiger einer Uhr klammert, die hoch oben an der Fassade eines Wolkenkratzers hängt, während unter ihm der Abgrund gähnt… das ist zweifellos ein solches Frame. Einmal gesehen, kann man es nicht mehr ungesehen machen. Man wird es immer wieder aus den Tiefen des Unterbewusstseins in die Erinnerung zurückholen, wenn mal wieder jemand in einem Film über die Zeiger einer überdimensionalen Uhr klettert und droht, in die Tiefe zu stürzen.
Man sieht da nämlich nicht einfach nur einen Akrobaten zur Unterhaltung des Publikums in luftiger Höhe baumeln, sondern vor allem auch den einfachen amerikanischen Bürger, wie er in einer Ära des radikalen Umschwungs versucht, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Gebäude ragen immer weiter in die Höhe, die Zeiger deuten umso tiefer nach unten. Am Grund wuselt das Leben in dem Versuch, aus der Masse zu ragen und vergleichbare Höhen zu erreichen wie der schmächtige Kerl mit Brille und Hut auf dem Bild, der eigentlich gar nicht so recht weiß, wie ihm geschieht. Die auf dem Ziffernblatt angezeigte Zeit wird zu einem zentralen Faktor, der in direkter kausaler Verbindung zum materiellen Wert steht, welcher Stein für Stein, Vorsprung für Vorsprung erklommen werden muss – mit Beharrlichkeit, Innovationsgeist und auch ein wenig Glück.
„Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ ist wohl eines der ausdrucksstärksten Beispiele für die „Roaring Twenties“, in seiner aufreibenden Mischung aus Slapstick-Komödie und Suspense-Chiller ein Symbol für Dynamik und Veränderung, das in einem ganzen Jahrhundert nichts von seiner atemberaubenden Wirkung verloren hat. Nicht zuletzt liegt das daran, dass das präsentierte Spektakel aufgrund seiner Zugehörigkeit zum vordigitalen Zeitalter praktisch ein für jeden Zuschauer sichtbares Echtheitszertifikat trägt, das für eine absolut zeitlose Nacherlebbarkeit sorgt. Da hängt er zweifellos, Harold Lloyd persönlich, wenn auch höchstwahrscheinlich abgesichert durch Sicherheitsvorkehrungen im Off, unterstützt von dramatisierenden Kameratricks und erfahrenen Stuntmen, inklusive seinem Co-Star Bill Strother, der ein echter Fassadenkletterer war. Es bleibt aber doch eine potenziell lebensgefährliche Situation, des Entertainments wegen.
Harold Lloyd: Prototyp des modernen Actionhelden
Dieses frühe Verständnis von Film als Ausnahmeerfahrung, als Dokumentation des „Larger than Life“, treffend auf den Punkt gebracht im englischen Originaltitel „Safety Last!“, ganz im Kontrast zum heute gültigen „Safety First“, das hat unleugbar tiefe Spuren der Inspiration für das Actionkino hinterlassen. Es ist das Credo, dem zeitgenössische Stars und Antriebsfedern des Genres wie Tom Cruise gegen den Strom des Establishments hinterherjagen, immer auf der Suche nach dem nächsten, noch größeren Ding. Dass auch Jackie Chan, selbst längst eine lebende Legende in diesem Bereich, Harold Lloyd zu seinen wichtigsten Einflüssen zählt, machte er 1983 in „Project A“ schon früh offiziell, als er sich mit einem Sprung von einem Uhrenturm selbst in akute Lebensgefahr begab, um seinem Vorbild seine Reverenz zu erweisen. Wie in der späteren Actionkomödie „Shanghai Knights“ (2003) durch die (inzwischen per Computerumgebung simulierte) Kletterpartie auf dem Big Ben zu erahnen ist, hat ihn dieser Einfluss über seine gesamte Karriere hinweg nie wirklich losgelassen – und das bei weitem nicht nur in Bezug auf die gelebte Philosophie beim reinen Stunt-Handwerk. Die Verbindung reicht viel tiefer.
Der Jahrzehnte überbrückende Einfluss der Stummfilmlegende auf den Martial-Arts-Star spiegelt sich nämlich bereits in der Anlage der jeweils von ihnen erschaffenen Figuren. So wie Jackie Chan oft einfach „Jackie“ spielte, einen jungen Taugenichts von vielen, ist auch Harold Lloyd einfach „Harold“. Beide sind zu Außergewöhnlichem in der Lage, werden aber in der Regel durch höhere Mächte, wenn nicht zumindest durch ihr loses Mundwerk, in Situationen manövriert, die eigentlich nicht ihrem Element entsprechen. Zu Helden geraten sie zwar letzten Endes, aber nicht zu solchen, die bereits als Helden auf die Welt kamen; geboren wurden sie erst im Laufe der Herausforderung, weil ihnen keine Wahl blieb.
Vom Verkäufer zum Fassadenkletterer
Dabei ist „Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ natürlich mehr als die Wolkenkratzerspitze, sprich, der Thrill des Hochgefühls, es ist ein ganzer Wolkenkratzer von Film, vom Scheitel bis zur Sohle, von der Nadel zum Fundament. Die Ausgangskonstellation ist im Grunde ein klassisches Großstadtmärchen: Ein junger Kerl vom Lande zieht ins Zentrum, um reich zu werden und auf diese Weise sein Mädchen zu beeindrucken, doch die Dinge laufen nicht wie geplant. Was ein angesehener Geschäftsmann werden wollte, findet sich hinter dem Tresen eines Kaufhauses in der Stoffabteilung wieder und muss nun seinen Einfallsreichtum walten lassen, um den Schein aufrecht zu erhalten.
Schaut in den Trailer zu „Ausgerechnet Wolkenkratzer!“
Was nun folgt, kann man sich ausmalen. Dumme Burschen, die sich von einem Polizisten mit Knüppel um einen Häuserblock jagen lassen, mögen noch Standards der Slapstick-Unterhaltung bedienen, die so alt sind wie der Stummfilm an sich. Doch je weiter sich die Gags häufen, desto progressiver wird ihre Ausrichtung. Wenn Lloyd im Entengang über den Flur watschelt, um sich hinter einer rollenden Kiste zu verstecken (die natürlich irgendwann abbiegt, während der Protagonist fröhlich weiter watschelt) oder wenn er aus demselben Grund unter einer am Wandhaken aufgehängten Jacke bis zur Unsichtbarkeit verschwindet, dann sind das zunächst einmal formidabel geplante und physikalisch ausgeführte Einlagen, die beim Publikum eine Sensationslust für das Absonderliche bedienen, nicht viel anders als das, was man in einer Zirkusmanege zu sehen bekommen würde. Zugleich wird mit diesen körperlichen Einlagen aber permanent das Kernthema des Films aufgegriffen. Hier geht es schließlich um den Strom der Masse und Strategien, sich je nach Bedarf entweder in ihm zu tarnen oder von ihm abzuheben. Bei etlichen Szenen handelt es sich um choreografische Glanzleistungen der Regie unter Beteiligung etlicher Statisten, die in perfekter Synchronizität ihren Beitrag dazu leisten, dass die kleinen Gesten der Hauptfigur zu mächtigen Pointen mit Echo verstärkt werden. Die Hintergründe sind ausstaffiert mit Regalen voller unverarbeiteter Stoffe, den Reichtum an Rohstoffen symbolisierend, mit dem die Prosperität des Landes angekurbelt werden sollte. Kurzum, was da auf den ersten Blick wie eine beliebige Abfolge von artistischen Kunststücken im wuseligen Großstadt-Setting wirken könnte, ist in Wahrheit ein Modell der dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen im Amerika der 20er Jahre.
Ausgerechnet Wolkenkratzer! und ein Showdown für die Ewigkeit
All die Bewegung, die am Grund in der Horizontale stattfindet, ist aber letztlich nichts anderes als die akribische Vorbereitung für den Aufstieg in die Vertikale. Nach zwei Dritteln, gefühlt eigentlich schon nach der Hälfte der Laufzeit, beginnt bereits der Showdown, dargeboten als ein einziger exzessiver Konzeptstunt, in einzelne Episoden segmentiert, damit der Betrachter sie überhaupt verdauen kann. Der letzte Akt wird hier gewissermaßen bereits zur Königsdisziplin des Actionfilms geformt und gerät als solche zu einer sehr speziellen Herausforderung , geht es doch darum, so viel Action und Intensität wie möglich auszureizen, und zwar so lange wie möglich, ohne dabei die Spannungskurve abfallen zu lassen – eine Disziplin, in der das Scheitern keine Seltenheit ist, weil man nur allzu schnell zu hoch oder zu niedrig dosiert hat. Etliche Klassiker der Filmgeschichte, die gerade durch ihren letzten Akt in Erinnerung geblieben sind, man denke etwa an Bruce Lees Säuberung der Pagode aus „Game of Death“ (1978), das Hide-and-Seek aus „Alien“ (1979), das Duell zwischen Arnold Schwarzenegger und einem Jäger-Alien aus „Predator“ (1987) oder den Sturm auf ein mehrstöckiges Wohngebäude aus „The Raid“ (2011), liegen zweifellos im Schatten von Lloyds Wolkenkratzer, der wie der Zeiger einer riesigen Sonnenuhr aus der Vergangenheit anzeigt, was die Stunde geschlagen hat. Spitze Winkel und waghalsige Perspektiven, mit denen immerzu die Straße wie eine lebendig gewordene Miniaturlandschaft in der Wahrnehmung verweilt, rücken das Gebäude als eigenen, überlebensgroßen Protagonisten ins Bild, ganz ähnlich wie im Actionklassiker „Stirb Langsam“ (1988), in dem der in Zeitlupe eingefangene Sturz des Bösewichts vom Dach des „Nakatomi Plaza“ Geschichte geschrieben hat, aber nicht nur er, sondern auch das Gebäude selbst, ohne Zweifel ein rechtmäßiger Nachfahre des Gebäudes, an dessen Außenwand sich einst Harold Lloyd klammerte.
Gemeinsam haben all diese Filme, dass sie wissen, wie sie das Beste aus ihrem Setting ziehen. Wie öde könnte so eine minutenlange Kletterei in den falschen Händen inszeniert sein, ohne das nötige Gespür für Perspektive und Relation, doch die Regisseure Fred Newmeyer und Sam Taylor wissen ihren Star ohne Atempause von einer Bredouille in die nächste zu überführen, während sie Adrenalin in Kübeln verschütten und zur Krönung mit einer süßen Prise komischer Erleichterung anrichten. Beugt sich dann auch noch eine alte Dame aus einem der Fenster in den oberen Stockwerken und richtet die Worte „Young Man, don’t you know you might fall and get hurt?“ an den Kletterer, dann stößt spießiges Altbürgertum in luftigen Höhen auf cineastischen Größenwahn. Das ist wahrlich hohe Comedy-Kunst, erst recht in Kombination mit all den Tauben, bissigen Hunden und Tennisnetzen (!), die auf den anderen Stockwerken als Stolpersteine warten, immer einen falschen Schritt vom falschen Ende entfernt.
„Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ hat die Zeit überdauert
„Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ weiß aufgrund dieser zeitlosen Schauwerte auch ein ganzes Jahrhundert nach seiner Entstehung noch einen Cocktail der Gefühle irgendwo zwischen Überforderung und Hochmut zu erzeugen, der sich einstellt, wenn man sich in einer Ausnahmesituation befindet, in der die eigene Existenz ebenso winzig wie gigantisch erscheint, fern aller gültigen Relationen. Es handelt sich um wahrhaft mit den Sinnen erlebbares Kino, das nicht nur das Jahrzehnt seiner Entstehung symbolisch wirkungsvoll repräsentiert, sondern für die Nachwelt einen spürbaren Einfluss auf die Entwicklung unterschiedlicher Genres, insbesondere aber der Komödie und des Actionfilms, genommen hat und diesen Einfluss bis in die heutige Zeit hinein immer noch ausübt. Harold Lloyd mag hinter seinem Everyman-Kostüm bestehend aus Anzug, Brille und Hut zur Unsichtbarkeit verschwimmen, bietet sich dem Durchschnittszuschauer aber gerade dadurch als Avatar an, damit er selbst die Höhen erfahren kann, die sonst nur die Helden der Leinwand zu erreichen in der Lage sind. Das Ergebnis ist eine einmalige Mittendrin-Erfahrung, die nie gealtert ist.
„Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ wurde 2008 in Deutschland über Universal und StudioCanal im Rahmen einer 10-teiligen Werkschau des Hauptdarstellers Harold Lloyd auf DVD veröffentlicht. Zumindest kann man ihn streamen. Für eine Blu-ray muss man seinen Blick wieder ins Ausland richten: Seit 2013 (USA) bzw. 2020 (Großbritannien) gibt es den Stummfilm unter dem Originaltitel „Safety Last!“ in der renommierten „Criterion Collection“. Diese bietet zwei verschiedene Instrumentaltonspuren mit Soundtracks von Gaylord Carter (1969) und Carl Davis (1989), einen Audiokommentar mit Leonard Maltin und Richard Correll, ferner eine Einführung von Lloyds Enkelin Suzanne aus dem Jahr 2013, drei Harold-Lloyd-Kurzfilme („Take a Chance“, 1918; „Young Mr. Jazz“, 1919; „His Royal Slyness“, 2020), eine Dokumentation zu den Locations und Effekten, ein Interview mit Komponist Carl Davis sowie die spielfilmlange Dokumentation „Harold Lloyd: The Third Genius“ (1992). Ein 22-seitiges Booklet rundet das Paket ab.
Sascha Ganser (Vince)
Was hältst du von dem Film?
Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder und Screenshots/Label: The Criterion Collection__FSK Freigabe: ab 6__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Ja (Ausland) / Ja |