Originaltitel: Cartel Land__ Herstellungsland: USA-Mexiko__ Erscheinungsjahr: 2015__ Produzenten: u.a. Kathryn Bigelow__ Regie: Matthew Heineman |
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Bei „Cartel Land“ handelt es sich um einen packenden Dokumentarfilm aus dem Jahr 2015, welchen Matthew Heineman („Escape Fire: the Fight to rescue American Healthcare“) unter Lebensgefahr quasi wie ein in zwei militanten Bürgerwehren eingebetteter „Frontjournalist“ inmitten des seit Anfang der 1970er entsprechenden benannten „War on Drugs“ auf beiden Seiten der amerikanisch-mexikanischen Grenze gedreht hat: Ein durchaus beeindruckendes, wenn auch einige „Unebenheiten“ aufweisendes Werk, das dem Zuschauer so bislang noch nie ermöglichte Einblicke in spezielle Bereiche dieser gleichermaßen politisch brisanten wie menschlich bestürzenden Materie gewährt…
Zum einen hat Heineman den Ex-Soldaten und einstigen Drogensüchtigen Tim „Nailer“ Foley begleitet, der im abgeschiedenen Altar Tal eine paramilitärische Gruppierung anführt, welche sich „Arizona Border Recon“ nennt, von dem „Southern Poverty Law Center“ als „extremistische Vereinigung“ eingestuft wurde und es sich zur Aufgabe gemacht hat, den regen Drogen- und Menschschmuggel der Kartelle ‘rüber in die USA zu bekämpfen, indem er und seine Männer (u.a. mit Waffen und Funk-Scannern ausgestattet) regelmäßig das betreffende Gebiet auf der Suche nach Scouts, Kurieren und/oder illegalen Einwanderern durchkämmen. Seinem Standpunkt nach hat der Staat seine Bürger vor Ort im Stich gelassen: Die Problematik sei schließlich bekannt und würde sich aufs komplette Land auswirken – allerdings bräuchten die Cops bei einem Notruf (bspw.) meist mehr als eine Stunde, um die entlegene Gegend zu erreichen, weshalb man geradezu notgedrungen auf sich selbst angewiesen sei, etwas zu unternehmen. Zumindest aber würden die Behörden die von ihm (sozusagen „für sie“) gefassten Leute immerzu dankend in Gewahrsam nehmen…
Auch im mexikanischen Michoacán – rund 1300 Meilen südlich gelegen – fühlen sich die Anwohner von ihrer Regierung enttäuscht und ignoriert. Hier hat der Kleinstadt-Arzt José Manuel Mireles Valverde im Februar 2013 die „Autodefensa“-Selbstjustiz-Bewegung mitbegründet, welche es sich zu ihrem Hauptziel erklärt hat, die Macht des in der dortigen Region grausam wütenden „Tempelritter“-Kartells zu zerschlagen. Seines Zeichens ein charismatischer Redner und Initiator, mobilisiert Mireles eine stattliche Anzahl an Personen, die vorrangig aus Familien stammen, die auf die eine oder andere Weise bereits mal Opfer der bis dato scheinbar ungehindert agierenden kriminellen Vereinigungen in jenem Landesteil wurden. Gemeinsam seien sie stark und könnten sich erfolgreich zu Wehr setzen, proklamiert er öffentlich – und tatsächlich gelingt es ihnen, unter Einsatz von Gewalt diverse Provinzen „zurückzuerobern“. Kompliziert wird es jedoch, als zunehmend interne Differenzen zutage treten und die Politiker ihnen überdies ein Ultimatum unterbreiten, sich entweder zu „legalisieren“ (sprich: Integration in die bestehende Polizeistruktur) oder ihre Waffen niederzulegen…
Sowohl Foley als auch Mireles verfügen (jeder auf seine Art) über Ausstrahlungskraft und Führungsvermögen. Ihre Argumente klingen nachvollziehbar, sie agieren auf der Basis einer festen idealistischen Ansicht, sind misstrauisch, wähnen sich (primär im Hinblick auf die gewählten Volksvertreter) auf sich allein gestellt und wissen ganz genau, dass sie polarisieren und in der Kritik stehen. Das Publikum erhält ihre Auffassungen und Schilderungen präsentiert und kann diese mit seinen eigenen Ansichten und Kenntnissen zu einer individuellen Meinung über sie und ihre Sache (für welche sie einstehen und kämpfen) verknüpfen. Ersterer hatte eine harte Kindheit, ist Veteran, verlor seinen Job in der Wirtschaftskrise und hat eine Drogensucht überwunden. Als „Soldat im Krieg“ ist er davon überzeugt, aus patriotischen (und nicht etwa xenophoben) Gründen heraus zu handeln, und würde dank seines „Gesamtbilds“ (Tarnanzug, Bewaffnung, raue Stimme, Tattoos, stechend blaue Augen, von der Sonne gezeichnete Haut etc.) im Grunde perfekt in ein „cineastisches Ensemble“ wie das der „Expendables“ passen – nur dass er halt ein waschechter, realer „Badass“ ist…
Der Mann lebt sozusagen im „modernen wilden Westen“ und sorgt sich um die Zukunft seiner Heimat. Wenn man ihm so zuhört, klingt Donald Trump´s angedachte Grenzmauer plötzlich wie eine gar nicht mal so üble Idee. Mireles dagegen ist ein engagierter Arzt und Hoffnungsträger für die Menschen um ihn herum, die genug von den Drogen und garstigen Morden haben und in seinem Handeln einen möglichen Ausweg aus ihrer misslichen Lage sehen. Regelmäßig nimmt er hohe Risiken bei Veranstaltungen auf sich, verbreitet Mut, überlebt einen Flugzeugabsturz und avanciert schnell zur Leitfigur der „Autodefensas“ (samt prominenter Präsenz in den Medien). Doch Heineman deckt auch eine „andere Seite“ auf – z.B. dass er seine Frau mit jüngeren Señoritas betrügt oder eines Nachts befiehlt, ein geschnapptes (vermeintliches) Kartell-Mitglied zuerst zu foltern und anschließend dann zu töten. Hinsichtlich ihrer Methoden unterscheidet sich seine Truppe irgendwann kaum mehr von ihren Gegnern – worüber hinaus es zu heftigen Streitigkeiten untereinander kommt, u.a. wie und unter welchem Einfluss künftig weiter vorgegangen werden soll…
Angesichts der Flut ins Land fließender Drogen auf der einen sowie unfassbaren Gewalt auf der anderen Seite kann man durchaus nachvollziehen, warum die im Fokus stehenden Bürger das Recht in die eigenen Hände genommen haben – zumal sich die jeweiligen Staatsapparate den Problemen einfach nicht genügend zu widmen scheinen, was wiederum zu Unmut, Vertrauensverlust, Korruptionsvorwürfen und Verschwörungstheorien führt. Heineman zeigt einige der Vor- und Nachteile auf, die aus solchen „Bewegungen“ resultieren. Speziell in Michoacán läuft das, was einst so lobenswert und effektiv begann, schon bald immer kräftiger aus der Spur: Ehemalige „Tempelritter“ infiltrieren die „Autodefensas“ und verüben unter jenem „Deckmantel“ weitere Verbrechen – und einer der engsten Wegbegleiter Mireles’ (ein kauziger älterer Herr mit dem Spitznamen „Papa Schlumpf“) schließt sich ab einem bestimmten Zeitpunkt mit einer Reihe anderer (dem entsprechenden Appell nachkommend) den lokalen Polizeikräften an, welche ja selbst in dem Ruf stehen, tief in „unredliche Machenschaften“ verstrickt zu sein…
Interessant ist die Feststellung, dass obgleich die Ereignisse südlich der Grenze wesentlich schockierender beizuwohnen sind, einem die Situation rund um Foley des Öfteren irgendwie „unterschwellig beunruhigender“ vorkommt. Ich denke, das hat eine Menge mit der individuellen Perspektive des Betrachters zutun. Simplifiziert ausgedrückt: In diesem Fall sind die Konflikte in Mexiko eher „intern“ – während sich die Amerikaner „von außen“ bedroht fühlen. Dass die Materie wesentlich komplexer ist: Keine Frage. Aber auf diese Hintergründe geht der Film leider nicht konkret ein: Ethische Aspekte sowie eine direkte Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstjustiz werden bloß angerissen – und auch als Charakterstudie entpuppt sich das Ergebnis als relativ unausgewogen. Mireles scheitert als Anführer – Foley dagegen bleibt „standfest“. In Bezug auf ersteren kommt die Bevölkerung zu Wort – im Norden gibt es keine vergleichbaren Stimmen zu vernehmen. Einige eingespielte Nachrichtenmeldungen reichen da nicht aus – vor allem da Heineman in Michoacán ein wesentlich umfangreicheres, ergiebigeres Bild der Lage vermittelt…
Generell ist der „Arizona Border Recon“-Handlungsteil im Vergleich der zweitrangigere und unaufregendere – ohne Kampfhandlungen oder der konstanten Sorge um Angriffe, dafür aber mit diversen Patrouillengängen und Recherchen am PC: Keineswegs frei von Reiz sowie mit einigen aufschlussreichen Infos aufwartend (wie dass sich Foley darüber im Klaren ist, dass sich ihm auch Leute aus primär rassistischen Motiven heraus anschließen) – allerdings wäre es eventuell ersprießlicher gewesen, wenn man sich strikt auf Mireles konzentriert sowie den anderen Part (gesondert) zu einem Nachfolgewerk erweitert hätte, in welchem man dann stärker auf die „Drogen-Epidemie“ im Allgemeinen (Vertriebsstrukturen, Auswirkungen etc.) hätte eingehen können. Eigentlich sei er mit der Erwartung nach Mexiko gereist, dort eine klassische „Gut gegen Böse“-Story zu erzählen bzw. aufzuzeigen, verriet Heineman in einem späteren (separaten) Interview mit Produzentin Kathryn Bigelow („Zero Dark Thirty“), bevor sich dieser ursprüngliche Ansatz im Laufe der Monate jedoch zunehmend wandelte. Die Realität ist nunmal voller (positiver wie negativer) Überraschungen…
Es ist erstaunlich, welche Einblicke der im Vorfeld an sich nicht allzu bekannte Amerikaner in den Alltag der „Autodefensas“ gewährt erhalten hat: Diese umfassen private Familienfeste und Demonstrationen ebenso wie Schießereien und brutale Verhöre, bei denen er sich unentwegt „so eng es ging“ den Menschen annäherte, um auf diesem Wege die existierende „Distanz“ zwischen ihnen möglichst weit zu minimieren – was ihm eindeutig (beim Ansehen nachempfindbar) gelungen ist. Einträglich bewirkt diese „Intimität“, dass einen u.a. die Ängste, Wünsche und Schicksale der Betroffenen bewegen: Bestimmte Momente lassen einen fern von kalt – z.B. wenn eine Dame auf einer Massen-Beerdigung schildert, auf welch abstoßende Weise selbst Säuglinge getötet wurden, ein Mann bei der Festnahme eines berüchtigten Kartell-Mitglieds mit dabei ist, der wohl dessen Onkel „auf dem Gewissen hat“, oder ein vor den Augen seiner Frau und Tochter aus dem Wagen gezerrter Verdächtiger auf seine „Befragung“ wartet, während aus dem Nebenraum die Schmerzensschreie anderer erklingen, die gerade vor ihm an der Reihe sind…
Mehrfach geriet Heineman mitten in sich unberechenbar entfaltende Shootouts, begleitete das Stürmen von Gebäuden, in denen sich schwer bewaffnete Widersacher verschanzt hielten, und dokumentierte eben jene „Action“ mit seiner Handkamera in einer Form, die so direkt aus einem Hollywood-Streifen á la „Sicario“ hätte stammen können – im Gegensatz dazu jedoch weder mit Aufwand geplant noch in verschiedenen „Takes“ arrangiert bzw. eingefangen wurde. Das Publikum erlebt alles quasi „ungefiltert“ mit – die im Zuge dessen generierte Spannung und „Sogwirkung“ ist beachtlich. Im Nachhinein darauf angesprochen, meinte der übrigens nie im Film an sich, sondern u.a. bloß im Rahmen des zugehörigen Bonusmaterials zu sehende Heineman, dass er sich per Konzentration auf die technischen Aspekte seiner Arbeit (wie die Regelung der Schärfe und/oder kontinuierliche Suche nach vorteilhaften Perspektiven) stets von der akuten Gefahr abzulenken versucht hatte: Ein klassischer „Schutzmechanismus“, den Journalisten (vor allem in Krisengebieten) ja des Öfteren erwähnen Schrägstrich nutzen…
Zusätzliche Bildaufnahmen Matt Porwolls, feines Editing sowie eine stimmige Musik-Untermalung aufweisend, sind die stilistischen Unterschiede zu artverwandter fiktiver Kino-Kost (wie etwa „Traffic“) teils verschwindend gering – allerdings verleiht das Wissen um die Echtheit der hier gebotenen Tragödien, Verbrechen und Grausamkeiten dem Werk ein zusätzliches „höheres Gewicht“, welchem sich der Betrachter (unweigerlich) ausgesetzt sieht. Es ist kein Geheimnis, was in Mexiko in Sachen Korruption und Kartell-Aktivitäten so vor sich geht – doch bloß die wenigsten dürften im Vorfeld von Zusammenschlüssen wie den „Autodefensas“ oder anderweitigen Auflehnungen seitens der Bevölkerung gewusst haben. Eindrucksvoll kommt in diesem Kontext eine Passage daher, in der die Bewohner eines kleinen Dorfes anrückende Polizisten und Soldaten aufgrund des Vertrauensverlusts zugunsten von Mireles und seinen Leuten (ohne Waffengewalt) zum Rückzug aus der Umgebung zwingen. Viele der Versprechen und erkeimten Hoffnungen blieben bis heute jedoch unerfüllt: Mexiko ist noch immer fern von „zur Ruhe gelangt“; Mireles sitzt derzeitig im Gefängnis…
„Cartel Land“ beginnt und endet im Beisein einer Gruppe Crystal-Meth-„Köche“, die im Schutze der Dunkelheit „irgendwo im Nirgendwo“ ihre Ware herstellen, bevor diese im Folgenden in die USA geschmuggelt wird und ihnen einen stattlichen Profit beschert. Klar wüssten sie, welches Leid ihre Drogen anrichten – aber sie seien nunmal arm und auf das Geld angewiesen. Wären sie reich, würden sie „zweifellos“ andere Dinge tun – nur hätten sie bei den Verhältnissen im Land keinerlei Chance dazu. Unglücklicherweise ist das eine bezeichnende Einstellung vieler – nämlich die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen sowie aktiv eine Veränderung einzuleiten. Per Selbstjustiz? Gewiss nicht. Aber aus Passivität und Resignation wird ganz sicher keine Verbesserung der Lage resultieren. Meiner Meinung nach ist dieser „Kampf“ keineswegs entschieden bzw. verloren – eher muss er noch weitaus intensiver „von der Wurzel an aufwärts“ angegangen werden. Nunja, auf jeden Fall ist diese ebenso ansehnliche wie packend-unterhaltsame Doku allen an diesem Themengebiet auch nur halbwegs Interessierten wärmstens zu empfehlen…
starke
Hierzulande ist der Film seit Oktober 2015 auf DVD und BluRay erhältlich.
Stefan Seidl
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Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
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