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Der Mann, der lacht

Originaltitel: The Man Who Laughs__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 1928__Regie: Paul Leni__Darsteller: Conrad Veidt, Mary Philbin, Olga Baclanova, Josephine Crowell, George Siegmann, Brandon Hurst, Sam De Grasse, Stuart Holmes, Cesare Gravina, Nick De Ruiz, Edgar Norton, Torben Meyer u.a.

Der Mann, der lacht Banner

Der Mann, der lacht

Die Mediabook-Variante E von “Der Mann, der lacht” im Joker-Stil.

Oh, grausames Europa, du mit deinen Schlössern und Burgen in garstiger Landschaft. Darin der niederträchtige Adel hausend, der aus seinen überdimensionierten Gemäuern heraus das arme Laufvolk täuscht und steuert. Nur folgerichtig, welche künstlerischen Strömungen sich aus deinem schwarzen Moloch heraus gebildet haben. Mit den dunkleren Schattierungen der französischen Romantik und den scharfkantigen Zügen des deutschen Expressionismus behaftet, angesiedelt im trostlosen England des 17. Jahrhunderts unter der katholisch geprägten Regentschaft von Jakob II., gibt es erwartungsgemäß nur wenig zu lachen in „Der Mann, der lacht“. Denn die Melancholie der Isolation bildet sich unentwegt hinter den Fensterscheiben ab, die über asymmetrischen Torbögen aus Zahnreihen liegen und erschütternde Einblicke bieten ins Verborgene.

Conrad Veidts denkwürdige Verkörperung des ewig grinsenden Gwynplaine wird gemeinhin nur als Schatten des schrillen Comic-Villains Joker wahrgenommen, sofern er, beinahe 100 Jahre nach seinem Erscheinen, überhaupt noch wahrgenommen wird. Dabei ist in diesem Fall der bunte Teil des Zwillingspaars der eigentliche Schatten und der Schemen aus Stummfilmtagen der eigentliche Körper. Hauptinspiration für die äußere Fassade des Jokers bei dessen Entstehung im Jahr 1940 war schließlich dieser arme englische Tropf aus Paul Lenis Stummfilm, der dazu verdammt war, nicht nicht lachen zu können.

Auch wenn sich seine bizarren äußeren Merkmale hauptsächlich über den Joker in die Popkultur hinein verselbstständigt haben mögen, anstatt wie ein Nosferatu der Prägung Max Schrecks selbst als eindringliches Phantombild präsent zu bleiben… ganz verschollen blieb er nicht. Ganze sechs Verfilmungen haben sich immerhin mit ihm befasst, dazu diverse Theateraufführungen und, natürlich, auch in Comics trat er immer wieder in Erscheinung. Blutsbrüderschaft teilte sich Gwynplaine aber weniger mit dem Joker als vielmehr mit Gestalten wie Quasimodo, denn sie hatten in dem französischen Schriftsteller Victor Hugo den gleichen Vater. Der beschäftigte sich in seinen zehn Romanen, zahllosen Kurzgeschichten und anderen literarischen und nicht-literarischen Ausdrucksformen vornehmlich mit den ausgestoßenen Randerscheinungen der Gesellschaft, den Schwachen, Kranken und all jenen, die von der Norm abwichen.

Diese insgesamt dritte Verfilmung und einzige US-Produktion des Stoffes fühlt sich daher an wie der Abschluss einer Trilogie der tragischen Gestalten, die Lon Chaney wenige Jahre zuvor mit „Der Glückner von Notre Dame“ (1923, Hauptrolle) und „Das Phantom der Oper“ (1925, Regie und Hauptrolle) auf den Weg gebracht hatte. Sein Konterpart wiederum, Conrad Veidt, war ebenso wie Regisseur Paul Leni maßgeblich daran beteiligt, den international einflussreichen Deutschen Expressionismus zu formen, etwa als Schlafwandler in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), als Pianist in „Orlac’s Hände“ (1924) oder direkt unter Leni als Iwan der Schreckliche in „“Das Wachsfigurenkabinett“ (1924).

In „Der Mann, der lacht“ waltet der Expressionismus immer noch als grollende Ahnung in mancher Hintergrundkulisse, er dominiert aber nicht mehr vollständig das Szenenbild. Prägnanter ist da schon dieser irrational furchtsame Blick der Amerikaner auf die unerschlossenen Ecken eines fremden Europas, wenngleich inszeniert von einem Einheimischen dieses Kontinents. Während die Filmindustrie durch den Beginn der Tonfilmära an ihrem Scheideweg stand, wirkt dieser Film in seiner klassischen Auskleidung einerseits rückwärtsgewandt, nimmt aber andererseits doch die Strömungen vorweg, denen Hollywood sich in den kommenden Jahren hingeben würde. Veidt zum Beispiel wird in mancher Pose im späteren Verlauf Béla Lugosis „Dracula“ vorbereiten, der drei Jahre später seinen großen Auftritt hatte. Wenn er sich mit hochgeklapptem Kragen über Olga Baclanova beugt, die Mundpartie hinter dem Stoff verborgen, dann wird zweifellos das Spiel der Vampire gespielt, die den Sterblichen hinters Licht führen wollen – nur, dass diesmal keine Hinterlist in den Augen darüber aufblitzt, sondern untröstliche Agonie.

Schaut in den rekonstruierten Wicked-Vision-Trailer von “Der Mann, der lacht

Ebenso wird das Schloss des englischen Königs im Prolog auf eine Art und Weise gefilmt, dass es als vollständiges Bauwerk nicht so recht zu greifen ist und so transsylvanische Unwirtlichkeit ausstrahlt. Die Mauern stets den Bildausschnitt füllend, die Hallen sich weit in den Hintergrund erstreckend, vollzieht sich das grausame Schicksal an Gwynplaines Vater in einer mit Foltergeräten gespickten, kalten Vorhölle, und als sich die Eiserne Jungfrau mit der erbarmungslosen Zielstrebigkeit einer Venusfliegenfalle schließt, hält die Kamera gnadenlos drauf, um den Moment einzufangen, als sich Orientierungslosigkeit in ewige Dunkelheit verwandelt.

Erstaunlich weit ausholend gibt sich die Erzählung also nicht nur durch den Rückgriff auf ein 230 Jahre in der Vergangenheit liegendes Setting, sondern auch den Umstand, dass sich ihr eigener Rahmen über rund 30 Lebensjahre des Protagonisten erstreckt. Bevor Veidt überhaupt in den Mittelpunkt rückt, ist nicht nur der eigentliche Prolog vergangen, sondern ferner eine weitere Zwischensequenz, die vom zehnjährigen Gwynplaine handelt, gespielt von Julius Molnar Jr.. Das Drehbuch nimmt sich zum Einstieg viel Zeit, die Lebenserfahrungen seiner Hauptfigur reifen zu lassen, eingeschlossen die Liebe zu seiner blinden Dea (Mary Philbin), deren erster Auftritt darin besteht, als Baby im Schneegestöber vom kleinen Gwynplaine aus den Händen der erfrorenen Mutter befreit und in die bescheidene, aber warme Unterkunft des Gauklers Ursus (Cesare Gravina) überführt zu werden. Beschrieben wird die aus der Not geborene Entstehung eines Familienkonstrukts, das dem Überleben in einer unwirtlichen Welt dient wie das Licht einer Fackel im Eissturm, und etabliert wird der warme Kern, der unter der Oberfläche dieses Horror-Melodrams durchgehend pulsiert.

Kaum jedoch hat man Conrad Veidt beiläufig durch das Fenster der rollenden Kutsche hindurch erstmals im Bild identifiziert, kann man kaum seine Augen von ihm nehmen. Natürlich ist es zum Teil das beunruhigende Make-Up, das ihn so faszinierend erscheinen lässt. Es ist so, als habe man Thalia, die lachende Maske des Theaters, direkt auf das weinende Gesicht ihrer Schwester Melpomene geschmolzen. Es sind nicht etwa nichtmenschliche Merkmale, die ihn entstellen, sondern vielmehr Übertreibungen des Menschlichen, die in der Komposition etwas zutiefst Beunruhigendes ausstrahlen. Gebleckte Zähne, die an das Lachen eines Totenschädels erinnern, eingebettet in dunkles Zahnfleisch, das dort liegt, wo normalerweise die Lippen sein müssten. Bleiche Haut, in die sich die Lachfalten wie Kerben schlagen. Veidt ist es vor allem, der das Erbe von Wiene, Murnau, Lang oder eben Leni auf die Leinwand projiziert, mehr als die Kulisse um ihn herum. Von der Maske alleine geht die verstörende Wirkung allerdings nicht aus, sondern von dem Umstand, dass der Ausdruck in den Augen fast nie eine Einheit mit ihr bildet.

Und so wird „Der Mann, der lacht“ natürlich zum krankhaften Symptom eines Kastensystems der Unterdrücker und Unterdrückenden, das jede Abkehr von der Norm vorführt und verurteilt. Wie „Freaks“ (1932) oder „Dumbo“ (1941) spielt auch dieser Film teilweise im Schaustellermilieu und zeigt dementsprechende Sequenzen, in denen der Außenseiter ob seiner ungewöhnlichen Merkmale einer Masse zum Fraß vorgeworfen wird. Die Kamera liefert den Blick auf die Bühne ebenso wie jenen von der Bühne hinab aufs Publikum, um die Wahrnehmungsdiskrepanzen zwischen beiden Positionen zu verdeutlichen. Der Menschenauflauf gerät im Zuge dessen selbst zum johlenden Monster mit zahllosen Augen, auf der originalen Musikspur begleitet von der Geräuschkulisse lauter Menschenansammlungen, die diesen Stummfilm mit einem Bein bereits in der Dimension des Tonfilms stehen lassen. Zur verständlichen Artikulation kommt es jedoch nicht, die in ruhigen Szenen nuancierte musikalische Untermalung weicht lediglich einem bedrohlichen Soundwall, der mit der Präsenz anderer Menschen einhergeht.

Derweil versammeln sich auf den Texttafeln immer wieder Zitate, in denen die missverständliche Kommunikation zwischen Gwynplaine und Anderen um ihn herum sichtbar wird. Obwohl das Sujet des lachenden Mannes mit weinendem Herzen einer recht einfachen Dichotomie untersteht, mit der im Grunde einfach die Pole des klassischen Melodrams vertauscht werden, zieht Leni aus den einfühlsam geschriebenen Zwischentönen viele Nuancen, die sich am Ende der Kette allesamt in Veidts verzerrtem Antlitz widerspiegeln – ein weiteres Indiz für dessen hypnotisierende Wirkung.

In einer für die Stummfilmzeit äußerst gewagten Art und Weise wird hingegen die Aristokratie ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten demontiert. Gerade über die Szenen mit Olga Baclanova („Freaks“) als Herzogin darf man durchaus erstaunt sein, wie weit das Spiel mit sexuellen Andeutungen zu jener Zeit schon getrieben wird, um ihrem Stand die gleiche Obszönität unterstellen zu können, mit der Gwynplaine als Clown vermarktet wird. Bei dem Treffen zwischen ihm und der Herzogin spiegelt sich auf ihrem Gesicht eine Mischung aus Wollust und Ekel, die weit verstörender ist als ihr Gegenüber es je sein könnte. Denn bei ihr waltet das Zerrbild im Inneren, während die Oberfläche sich mit Hochglanz schmückt. Es findet in diesen Momenten eine Relativierung der Klassen, Stände und Schichten statt, deren Willkürlichkeit somit entlarvt wird.

Ertrag all dieser Mühen ist ein sorgfältig erzähltes Einzelschicksal, das dem Betrachter aufrichtig nahegeht, als es an den scharfen Klippen einer entwürdigenden Gesellschaftsordnung zerschellt. Der Stoff bleibt dadurch über die volle Länge zugänglich und intensiv in seiner Wirkung. Selbst nach reinen Unterhaltungskriterien bewertet gerät er nie ins Stocken, weil die Dramaturgie stets auf den Punkt sitzt und im Finale sogar noch ein Hauch Action im Sinne eines schwunghaften Mantel-und-Degen-Abenteuers geboten wird. Regie und Skript erreichen allerdings nie die Radikalität der Hochphase der versiegenden expressionistischen Strömung. Im Aufbau wird doch eher die Essenz eines klassischen Bühnenstücks gestreift als die eines filmischen Werkes der Avantgarde, mit all seinen frühzeitigen Hinweisen auf die Antagonisten in den ersten Akten, den Intrigen und Verstrickungen im Mittelteil sowie seiner Auflösung, die allerdings leider das Ende des Romans deutlich entschärft.

Wenn man aber sieht, auf welch brillante Weise der Held in seinen eigenen Antagonisten gespiegelt wird, insbesondere in dem hinterlistigen Hofnarren Barkilphedro, oder mit welcher Güte und Dankbarkeit er sich auf Augenhöhe mit seinem Wolfshund Homo begibt, der ihm trotz des abschreckenden Äußeren nichts als Zuneigung entgegenbringt, dann entfaltet „Der Mann, der lacht“ seine Kraft und empfiehlt sich als zeitloses Vermächtnis, das es wert ist, aus der Vergessenheit geborgen zu werden.

08 von 10

Informationen zur Veröffentlichung von “Der Mann, der lacht”

Limited Collector’s Edition #57

Man könnte es ja jetzt dem grinsenden Mann gleichtun und einen Mantel des Schweigens über seinen Film ausbreiten. Womöglich einfach still und heimlich im Kinokeller mit ihm lachen und weinen, Mediabook zurück ins Regal stellen und gut ist. Nur… wäre das der Erfahrung angemessen? Gehört sie nicht vielmehr mit der ganzen Artikulationskraft des Tonfilms in die Welt hinausgeschrien?

Nun hantieren wir hier ja immer noch auf einem Textmedium (auch wenn wir für die Ton- und Bewegtbildfreunde natürlich inzwischen auch unseren Youtube-Kanal haben). Schreie der Begeisterung enden auf dem (digitalen) Papier bekanntlich in Großbuchstaben, und so sei an dieser Stelle ganz unverbindlich angemerkt:

~~HABT IHR LANGE NICHT MEHR STUMM GELACHT ODER GEWEINT~~
~~~~~~~SO BLICKET AN DEN GROSSEN KLASSIKERN VORBEI~~~~~~~
~~~~~~~~UND VERSUCHT EUCH AN JENEM, DER DA LAUTET~~~~~~~~
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~DER MANN, DER LACHT!~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Etwa zu der Zeit, als der „Joker“ im Kino erschien, tröpfelten auch weltweit die ersten HD-Veröffentlichungen zu dem Stummfilm ein, dessen Protagonist als geistiger Vater des Jokers gilt – vermutlich kein Zufall. Die Cineasten Frankreichs gehörten zu den ersten, die den Film auf Blu-ray genießen konnten, was nur fair erscheint, da die Romanvorlage ja schließlich auch von einem Franzosen geschrieben wurde. Im Januar 2019 erschien dort ein BR/DVD-Set, das den restaurierten Film mit zwei Tonspuren bot und auch zwei Featurettes an Bord hatte. Im Juli desselben Jahres legte Universal / Flicker Alley in den USA mit einer eigenen Edition nach, ebenfalls zusammengestellt aus einer Blu-ray und einer DVD, ebenfalls mit zwei Tonspuren und einem neuen Video-Essay anstelle der beiden französischen Featurettes. Ferner war ein 24-seitiges Booklet enthalten. Nur einen Monat später landete der Titel dann auch bei Eureka! in Großbritannien, die das Paket noch einmal um zwei zusätzliche Featurettes erweiterten und ein nochmals zwölf Seiten dickeres Booklet beilegten.

Gerade frisch erschienen ist „Der Mann, der lacht“ endlich mit zwei Jahren Verspätung auch in Deutschland, und zwar über Wicked Vision. Die schieben hier eine stolze 4-Disc-Edition als 57. Titel ihrer „Limited Collector’s Edition“-Reihe nach. Und obwohl die ausländischen Labels einiges an Vorarbeit geleistet haben, legte man sich nicht einfach in gemachte Betten; ganz im Gegenteil, der Film wird nun bei uns in einer Art und Weise präsentiert, wie sie noch nicht denkbar war, als die ersten Blu-ray-Releases des Titels in anderen Teilen der Welt eintrudelten.

Originalversion und Rekonstruktion der deutschen Kinofassung

Für ausländische Käufer dürfte der deutsche Release wegen der vielen Alternativen wohl weniger interessant sein, doch filmhistorisch hebt sich die Wicked-Vision-Ausgabe mit einer besonderen Premiere für alle deutschsprachigen oder an deutscher Filmgeschichte interessierten Cineasten hervor: Neben der restaurierten Originalfassung bietet das Paket auch die rekonstruierte deutsche Fassung mit deutschsprachigen Texttafeln. Das ist deswegen bemerkenswert, weil die deutschen Kinokopien als verschollen gelten, seit sie zur Zeit des Nationalsozialismus vollständig vernichtet wurden. Kein Wunder, stehen die Aussagen des Films doch im krassen Gegensatz zur NS-Ideologie. Mangels Alternativen, dafür mit einer Menge Motivation im Bauch, begann man deswegen vor einigen Monaten damit, die deutschen Texttafeln auf Grundlage der US-Version zu übersetzen. Unverhofft gelangte man dann aber über das Bundesarchiv an die Zensurkarten des Films. Zensurkarten wurden damals von der Reichsfilmzensur in Berlin und München eingesetzt, um die Entscheidung über Schnitte zu dokumentieren. Zu den Inhalten dieser Dokumente gehörten neben Prüfnummern, Produktionsfirmen oder Laufzeiten auch die Texte der Zwischentitel von Stummfilmen. Obwohl also die Filmrollen selbst weiter verschollen waren, konnte man nun anstatt einer freien Übersetzung die wortgetreuen Texte 1:1 in der Form übernehmen, wie sie im Kino zu sehen waren.

Texttafeln

Zwischentitel und andere Texteinblendungen wurden auf Grundlage der originalen Zensurkarten aus dem Bundesfilmarchiv akribisch für die deutsche Kinofassung rekonstruiert.

In der rekonstruierten Fassung führt das nun natürlich zur höchstmöglichen Authentizität, weil Übersetzungsfehler ausgeschlossen sind und der Sprachwandel der letzten hundert Jahre ebenfalls keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis ausüben kann. Schon wenn sich Carl Laemmle nach wenigen Sekunden „beehrt vorzuführen“, ist man mittendrin in der Zeit und im Film. Das ist auch der stilechten Gestaltung der Texttafeln zu verdanken, die nicht ohne Aufwand vonstatten gegangen sein dürfte, insbesondere wenn später auch Schilder, Briefe und dergleichen in der Nahaufnahme eingedeutscht werden, stets mit absoluter Detailversessenheit und optisch angepasst an das restliche Bildmaterial.

Kürzungen hatten damals für die Kinoauswertung übrigens stattgefunden. Paul Leni bewegte sich bei der Regie einiger Szenen eben stets an der Grenze zur Zensur und überschritt sie mindestens in einer Sequenz, in der Olga Baclanova nackt in ein Bassin steigt und anschließend spärlich mit einem Handtuch bekleidet ihre Reize spielen lässt. In diesem Punkt verzichtete man selbstverständlich auf die originalgetreue Rekonstruktion der Kinofassung und bietet sowohl in der deutschen als auch in der amerikanischen Version die völlig unzensierte Fassung, welche übrigens weit mehr Aufregung bietet als ein wenig Nacktheit; alleine schon die Bilder der Aufgeknüpften im Eissturm, eine der offensichtlichsten Reminiszenzen an den Expressionismus, sind nur schwer zu vergessen.

Bild und Ton

Beim Bild ist davon auszugehen, dass die HD-Restauration aus dem Ausland übernommen wurde. Das mit 1,18:1 fast schon quadratische Format überzeugt gerade in den Massenszenen mit erstaunlichen Details, die auch durch die fast vollständige Abwesenheit von Schmutzpartikeln oder anderen Störelementen ermöglicht wird. Typisch für Filme jener Zeit wird hin und wieder auch mit Weichzeichnern gearbeitet (insbesondere in den Szenen zwischen Gwynplaine und Dea), in Nahaufnahmen kommt es auch mal zu stärkerer Körnung, wobei die Augen der Darsteller und die Zahnreihen von Conrad Veidt stets mit einem auffälligen Glanz versehen sind.

Auch die beiden Tonspuren hat man von den bisherigen Blu-ray-Releases übernommen. Da wäre zum einen die Originalspur mit einem Score von William Axt, Sam Perry und Erno Rapee, die übrigens gar nicht so stumm ist, wie man meinen sollte: Dialoge sind darauf zwar keine vorhanden, wohl aber Umgebungsgeräusche wie Wind, schwere Bewegungen und größere Menschenansammlungen, was die Audio-Kulisse in den Massenszenen zu bedrohlichen Wellen ansteigen lässt, zumal der Score selbst auch dann noch weiter ertönt, wenn sich zusätzliche Geräusche aufbäumen. Diese Spur ist in DTS-HD Master Audio 1.0-Monoton abgemischt. Ein leises Grundrauschen kann man vernehmen, davon abgesehen steht dem Genuss der Originalversion nichts im Wege. 2019 spielte das Berklee Silent Film Orchestra ferner einen neuen Soundtrack ein, der hier als technisch makellose zweite Tonspur in DTS-HD Master Audio 2.0 Stereo enthalten ist. Auch dem neuen Score gelingt es, mit eindringlichen Melodien jede Szene pointiert zu untermalen und gar so manchen Ohrwurm zu erzeugen. Beide Tonspuren sind jeweils für beide Fassungen enthalten. Nicht dabei ist diesmal leider ein Feature, das auf den meisten anderen Wicked-Vision-Releases fast obligatorisch ist. Es fehlt nämlich ein Audiokommentar, den man sich gerade bei einem Stummfilm besonders gewünscht hätte. Interessanterweise fehlt ein solcher aber auch auf den Auslandsveröffentlichungen, so dass sich die Frage stellt, ob es womöglich einen besonderen Grund für deren Abwesenheit gibt (Rechte?).

Die Extras

Wer sich gerade erst durch die 4-Disc-Edition von „Nachts, wenn Dracula erwacht“ gekämpft hat, der könnte bei einer erneuten 4-Disc-Edition womöglich wieder die gleiche Menge an Extras erwarten. Da die beschriebene Aufbereitung des Hauptfilms aber das eigentliche Highlight der Edition darstellt, ist in der Abteilung Begleitmaterial diesmal nicht ganz so viel zu holen. Die vier Discs erklären sich dadurch, dass jede der beiden Filmfassungen jeweils einmal auf Blu-ray und einmal auf DVD enthalten ist. Die wenigen Extras wurden dann jeweils auf alle vier Discs reproduziert.

Stiglegger

Dr. Marcus Stiglegger weiß genau, in welchem Ambiente ein solcher Film zu genießen ist.

Von den Boni aus dem Ausland konnte oder wollte man keine lizensieren, dafür wurden einige wenige neue in Eigenregie erstellt. Kernstück ist dabei Dr. Marcus Stigleggers Beitrag „Die Geburt der Universal Monster aus dem Geiste des Melodrams“. Das etwa 18-minütige Feature befasst sich gemäß des Titels hauptsächlich damit, welchen Einfluss „Der Mann, der lacht“ auf die Horror-Dramen aus Universals Hochphase mit „Dracula“, „Frankenstein“ oder „Der Wolfsmensch“ ausgeübt hat, wagt aber auch den großen Jump Cut in die Gegenwart, um den direkten Einfluss des Films auf Joaquin Phoenix’ Darstellung in „Joker“ (2019) aufzuzeigen, untermauert von einem ziemlich verblüffenden Bild-für-Bild-Vergleich. Ebenso kommt Stiglegger darauf zu sprechen, wie der Erfolg von „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Das Phantom der Oper“ dazu geführt hat, dass dieser Film entstehen konnte. Nicht zuletzt wird die Wirkung des Films im Zwielicht von Horror und Melodram eingeordnet und entsprechend bewertet. Gemessen an den Themen im Film wäre sicher noch viel mehr Diskussionsstoff vorhanden gewesen als man je in einen 20-Minuten-Beitrag packen könnte, zumindest wird die gebotene Zeit aber umfassend genutzt, um auf die Kernpunkte einzugehen. Ferner ist die Featurette wie immer sehr aufwändig produziert, inklusive Schwarzweißbild, eleganter Regie und stimmungsvollem Dekor.

Die Erstellung übrigen Extras erforderte dann wieder das Geschick eines Archäologen. Wo ein Dr. Alan Grant Dino-Knochen nach DNA-Bausteinen zusammensetzt, da rekonstruierte das Wicked-Vision-Team den deutschen Trailer nach einer Anleitung, die sie neben den Zwischentiteln in den Zensurkarten vorfanden. Der völlig anders geschnittene, eher modern mit schnellen Schnitten und Überblendungen gestaltete US-Trailer für die 4K-Restauration ist ebenfalls an Bord. Und dann gibt es noch eine wirklich sehenswerte Bildergalerie zu bestaunen, in der seltene Hinter-den-Kulissen-Fotos, Kostümtests und Portrait den Hauptteil ausmachen. Weiterhin sind Aushänge enthalten sowie unzählige wunderschöne Artworks zum Film.

Die Verpackung

Mediabooks

“Der Mann, der lacht” oder “Die Qual der Wahl”: An Mediabook-Motiven mangelt es diesem Titel nicht.

Bei der Auswahl hätte Wicked Vision vermutlich jeden Buchstaben des Alphabets mit einem schicken Cover ausstatten können, und so wundert es nicht, dass diesmal anstatt der obligatorischen drei Motive gleich fünf zur Auswahl stehen. Das hier vorgestellte Cover E ist eine Neuanfertigung von Nadine Demmler, die als einzige exklusiv im Wicked-Vision-Shop zu erwerben ist. Bewusst wird hier durch das grüne Haar, die bleiche Haut, die roten Lippen und die Andeutung eines lilafarbenen Jacketts die Brücke zum Joker geschlagen. Die Tatsache, dass diese Verweise tatsächlich nur durch die Kolorierung entstehen, zeigt auf, wie eng Gwynplaine und der Joker optisch schon von Natur aus miteinander verknüpft sind. Die Künstlerin macht sich die Körnung des Stummfilms als Stilmittel zu eigen und erweckt die wenigen hellen Passagen damit zum Leben. Fast alles andere wird von der Dunkelheit verschluckt; um so verstörender die Wirkung, als man im Hintergrund die hängenden Menschen am Galgen ausmacht. Der englische Titel „The Man Who Laughs“ ist im Kontrast zum Bild in mattem Lila-Grün gehalten, der kleine Gwynplaine-Kopf im „O“ ist wie überhaupt der gesamte Schriftzug eine Anspielung auf die Batman-Comics. Oben rechts sind in Weiß noch Referenzen zu Regisseur Paul Leni und Autor Victor Hugo untergebracht.

Die zweite Neuanfertigung ist Cover B von Gilles Vranckx, der zweifellos für eines der schönsten Mediabooks der gesamten Auflage sorgt. Ähnlich wie Cover B bei „Augen ohne Gesicht“ begeistert es durch seine ungewöhnliche Hintergrundkolorierung, in diesem Fall ein helles Olivgrün, das auf der Front von edlen Ornamenten verziert ist. Gwynplaine tritt als schwarzer Fleck mit ausgebreiteten Armen und einladendem Lächeln in Erscheinung, die Pose imitierend, mit der er im Film sein Publikum begrüßt. Besonders gelungen ist hier auch die (erneut englischsprachige) Typografie des Titels, die in roten Buchstaben mittig auf der Front und ebenso auf dem Spine liegt.

Die Motive C und D waren jeweils als Normal- und Wendecover schon auf der britischen Eureka!-Fassung zu sehen und sie verlieren auch auf ein Mediabook gedruckt nichts von ihrer enormen Wirkung. Gerade die D-Variante begeistert durch ihre frischen Pastellfarben und den detailreichen Stil, ferner durch den Umstand, dass der zugeknöpfte Gwynplaine der Fantasie hier noch ein wenig zum Rätseln übrig lässt. Aber auch das nach Art eines Portraits gestaltete C-Cover ist eines, an dem man sich nicht sattsehen kann. Mehr als alle anderen veranschaulicht es die hypnotische Wirkung, die von Conrad Veidt in seiner Rolle ausgeht. Und dann gibt es noch Cover A, eine Collage der Köpfe von Veidt und Mary Philbin, die sich ganz und gar der Stummfilm-Optik hergibt und damit wohl näher an der Stimmung des Films ist als alle anderen Motive. Auch hier überzeugt wieder die spezielle Typografie, die hervorragend auf das Motiv abgestimmt ist. Fünf völlig unterschiedliche Artworks also mit jeweils einer sehr eigenen Wirkung, die eine Auswahl schwerer macht als vielleicht je zuvor in der Sammlerreihe.

Das Booklet

Das deutsche Kinoplakat, eine Variante des D-Mediabooks, dient als Frontcover für das 24-seitige Booklet. Christoph N. Kellerbach deckt in drei Kapiteln mitsamt zahlreicher Unterkapitel so ziemlich alle Facetten ab, die man über die Entstehung, Auswertung und den Einfluss von „Der Mann, der lacht“ wissen muss – von Victor Hugo und seinem Roman über das von Lon Chaney dominierte Hollywood Universals zur Wandlungsfähigkeit Conrad Veidts, von den Abweichungen zum Roman über den Einfluss des Melodrams auf Horrorfilm und Popkultur. Warum und wie dieser Film entstand und wie anders die Filmgeschichte ohne ihn verlaufen wäre, wird mehr als hinreichend beantwortet, aber auch interpretative Ansätze werden geboten, wenngleich nicht in Form einer vollwertigen Analyse. Für ein Portraitfoto von Mary Philbin ist kurz vor den Credits noch eine Seite Platz, auf der Rückseite bekommt man dann noch ein weiteres von Julius Molnar Jr. als junger Gwynplaine mit nicht minder verstörender Maske.

Ein paar Extras mehr hätten es bei einer 4-Disc-Edition gerne sein dürfen, aber der Fokus lag diesmal spürbar auf dem Hauptfilm und seiner historisch akkuraten Rekonstruktion der Fassungen, die für sich genommen weit mehr wert ist als jedes Bonus-Interview. Denn sie rückt ein verloren gegangenes Stück Filmgeschichte wieder nah an ihren Ursprungszustand. Das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, die somit entsprechend gewürdigt gehört. Wer trotzdem noch nicht genug hat vom „Mann, der lacht“, der geht einfach auf Ostereiersuche, denn auf den Blu-rays ist noch ein Easter Egg versteckt. Wer nicht selbst suchen will, geht einfach auf Seite 2 dieses Artikels und bekommt ein wenig Hilfestellung.

Sascha Ganser (Vince)

Bildergalerie

Der Mann, der lacht

Iron Maiden gefällt das.

Der Mann, der lacht

Paul Leni war einer der Meister des Deutschen Expressionismus, was er auch hier in gewissen Einstellungen wieder unter Beweis stellt.

Der Mann, der lacht

Gwynplaine war schon als kleiner Bub ein freundlicher Geselle.

Der Mann, der lacht

Ach schaut doch nur, wie glücklich er ist.

Der Mann, der lacht

Eine Pose, wie prädestiniert für den Kinoaushang.

Der Mann, der lacht

Die Blinde und das Biest.

Der Mann, der lacht

Olga Baclanova fordert die Zensur zum Tanz heraus.

Der Mann, der lacht

Nachdem der grinsende Narr endlich vom Hof verjagt war, zog der Pöbel gleich weiter zu Frankensteins Labor.

Sascha Ganser (Vince)

Was hältst du von dem Film?
Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love

Copyright aller Filmbilder/Label: Wicked Vision__Freigabe: FSK12__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Ja/Ja

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