Originaltitel: The Fall of the House of Usher__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2023__Regie: Mike Flanagan, Michael Fimognari__Darsteller: Bruce Greenwood, Carl Lumbly, Carla Gugino, Mary McDonnell, Henry Thomas, Rahul Kohli, Samatha Sloyan, Kate Siegel, T’Nia Miller, Sauriyan Sapkota, Mark Hamill, Zach Gilford, Willa Fitzgerald, Katie Parker, Malcolm Goodwin u.a. |
Während die Blutlinie der Ushers immer wieder aufs Neue dem Untergang geweiht ist, greift ihre Legende längst nach der Unsterblichkeit. In den vergangenen 100 Jahren wurde Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ (1839), letztlich nur eine Kurzgeschichte über die finalen Atemzüge des unglückseligen Hausherrn, mehr als 30 Mal verfilmt und so für die Ewigkeit vorbereitet, zumal es nicht unwahrscheinlich sein dürfte, dass auch in den nächsten 100 Jahren weitere Verfilmungen folgen werden. So wie das 20. Jahrhundert langsam verstrich und eine Adaption nach der anderen entstand, wurde die Geschichte fortlaufend variiert, modernisiert, erweitert und ergänzt, und aus einer einzigen schaurigen Gewitternacht um ein Gespräch zwischen zwei Personen, Roderick Usher und dem literarischen Ich, war ein monumentaler Familienstammbaum gewachsen, mächtig wie eine uralte Eiche, scheinbar resistent gegenüber der Zeit und allen Widrigkeiten – ganz im Widerspruch zum zerfallenden Emblem der stolzen Aristokratenfamilie, in deren Garten die Eiche auch lange nach ihrem Tod noch steht.
Die Vergangenheit und Zukunft einmal ausgeklammert, wollte es das Schicksal just in diesem Jahr, dass sich die Wege des Hauses Usher mit denen von Mike Flanagan kreuzen. Keine allzu unwahrscheinliche Begegnung; Flanagan hat sich mit seinen vielen Stephen-King-Adaptionen schließlich einen exzellenten Ruf als Meister des intimen amerikanischen Kleinstadtgrusels erarbeitet, und auch King selbst war und ist schließlich bis in die Spitze seines Füllfederhalters hinein massiv von Poes Arbeiten inspiriert.
Mit der Verfilmung populärer Literaturvorlagen in Form abgeschlossener Miniserien durfte Flanagan bei Netflix in den letzten Jahren ferner ein bis dahin noch unverbrauchtes Konzept erproben, das eine weitgehend unabhängige Arbeitsweise wie bei einem Romanautoren ermöglicht anstatt nur die eines herkömmlichen Serien-Regisseurs. Mit „Spuk in Hill House“ (2018), einer Adaption eines Romans von Shirley Jackson, schien die einmalige Gelegenheit für eine erfolgreiche Kollaboration auf Dauer gefunden: Warum nicht weitere Geschichten nach dem gleichen Strickmuster folgen lassen, ohne zwangsläufig die Beschränkungen einer gewöhnlichen TV-Serie in Kauf zu nehmen? Es folgten „Spuk in Bly Manor“ (2020) nach Henry James, „Midnight Mass“ (2021) nach einer eigenen Idee und schließlich „The Midnight Club“ (2022) nach Christopher Pike. Was Netflix da Flanagans Händen anvertraute, ermöglicht ihm eine Art von Selbstverwirklichung, die sonst nur wenigen Filmemachern vergönnt ist. Denn sie überwindet eines der größten Probleme vieler TV-Serien im Streaming-Zeitalter: das Unvollendete.
„Der Untergang des Hauses Usher“ scheint wie gemacht für das Miniserienformat, denn die Vollendung, die finale Ausführung der Konsequenzen einstmals getroffener Entscheidungen, ist vielleicht der Kern dieser Erzählung. In dem Wissen, binnen acht Folgen ohne jede Hast, aber doch zielstrebig auf ein rundes Ende zusteuern zu können, lässt Flanagan seine Protagonisten der Rahmenhandlung, Roderick Usher (Bruce Greenwood) und C. Auguste Dupin (Carl Lumbly), mit einer Flasche sündhaft teurem Cognac in bequemen Ledersesseln Platz nehmen, die für eine lange Nacht am Kaminfeuer bestimmt sind. Usher sitzt dabei mit dem Rücken zur Wand, während sich hinter Dupin, dem Vertreter des namenlosen Ichs aus Poes Geschichte, der verfallene Wohnbereich erstreckt, der die ebenso verfallende Lebenslinie des Gastgebers symbolisiert. Der Raum hinter Dupin, auf den die Kamera besonders oft gerichtet ist, bleibt im Halbdunkeln verborgen, mit den Schatten der Imagination ebenso spielend wie mit dem Regen, der von außen sichtbar an die Fenster prasselt. Außerdem ist die Tür zum Kellerbereich einen Spalt geöffnet und hin und wieder ertönt irritierendes Gerumpel von unten. Es sei nur seine Schwester, beteuert der Gastgeber, doch dessen ungeachtet hat Flanagan uns bereits am Haken: Der Gedanke, dass sich alsbald eine unheimliche Gestalt im Hintergrund manifestieren könnte, versetzt uns in einen acht Stunden andauernden Alarmmodus, und wir hängen bei den nachfolgenden Rückblenden-Kapiteln an Roderick Ushers Lippen, während er die Geschichte seines Lebens aufrollt und sie mit dem Tod seiner Kinder verknüpft.
Der narrative Aufbau mag auf den ersten Blick sehr simpel erscheinen und der raffinierten Bögen und verschachtelten Strukturen entbehren, die man insbesondere aus dem aufrührenden Schauerstück „Spuk in Hill House“ noch immer in den Knochen stecken hat. Episode für Episode steht ein anderer Spross des Erzählers im Mittelpunkt, und man kann die Uhr danach stellen, dass es deren Tod sein wird, der das jeweilige Kapitel mit einem lauten Knall zuklappen wird. Das Unvermeidbare muss bis zum bitteren Ende geschildert werden, deswegen macht Flanagan auch keinerlei Anstalten, die Dinge zu verschleiern. Das führt sogar so weit, dass noch innerhalb der einleitenden Rahmenhandlung nicht nur auf Dialogebene, sondern auch audiovisuell vorweggenommen wird, was anschließend passieren wird. Um das „Was“ wird also kein Geheimnis gemacht, es ist ja bereits geschehen, es geht nurmehr um das „Wie“ und das „Warum“, und so schiebt sich der Horror in Form handwerklich perfekt gesetzter Jump Scares oder manchmal auch in Form schleichenden Grauens in den Lichtkegel des Lagerfeuers und bereitet vor auf sorgsam sich aufbauenden Suspense. So gesehen ein grundehrlicher, respektvoller Umgang mit Dupin, dem Gast, und somit letztlich auch mit den Zuschauern vor dem Fernseher. Keine unnötigen Schlenker, um Pseudo-Komplexität zu erzeugen, sondern einfach die reine Essenz dessen, was es braucht, um Roderick Ushers Lage zu verstehen.
Man kann nicht behaupten, dass diese Ehrlichkeit in der Rhetorik des Erzählers dem Sehvergnügen schaden würde. Obgleich man um das Ende eines jeden Kapitels weiß, noch bevor es begonnen hat, saugt man jede Einstellung auf, jeden Dialog und jede Situation, um zu verstehen, wie es zu der Verkettung unheilvoller Ereignisse kommen konnte. Aufgebaut wie ein epischer Roman, beginnt alles mit einem Prolog, der in die Kindheit Ushers führt. Nur ein kurzer Ausflug in den wahrhaftigen Gothic Horror bei Blitz und Regen, nicht viel anders eigentlich als die Stimmung im Hier und Jetzt zwischen den Sesseln, aber effektiv genug, um Abdrücke wie von Geisterhänden in der Gegenwartserzählung zu hinterlassen. Die Stadt, in der die Ushers ihren Geschäften nachgehen, wirkt manchmal wie das Gotham City aus den Filmen von Christopher Nolan und Matt Reeves; Industrieanlagen, saurer Regen, Wolkenkratzer nebst riesiger Kathedralen, umkreist von schwarz lackierten Metallzäunen, auf dessen Spitze einer von Poes treuesten Wegbegleitern hockt, ein Rabe mit nur allzu wissendem Blick hinter den schwarzen Perlaugen. Man saugt quasi jede Einstellung auf, immer auf der Suche nach Zeichen für Bevorstehendes, und so braucht es am Ende gar nicht so viel handfesten Horror in Form von Monstern und Kreaturen, um dennoch eine permanente Atmosphäre des Unheils zu erzeugen. Oft reicht es, eine Erscheinung ohne Kontext zwei- oder dreimal nur für Sekundenbruchteile zu zeigen, und schon zieht sich ihr Nachhall wie ein Phantombild durch die brodelnde Atmosphäre der gesamten Serie.
In der Inszenierung wird auf diese Weise eine enorme Effektivität erreicht, die man sich letztlich auch vom Cast gewünscht hätte, der aber nicht auf allen Positionen vollumfänglich zu überzeugen weiß. Flanagan vertraut weitestgehend auf seine Stammkräfte, die er bereits in früheren Filmen und Serien eingesetzt hatte, muss hier aber bisweilen Kompromisse eingehen und sich strecken, um sie auf Poe’sche Figuren abzubilden. Gerade bei Roderick Usher wäre es ungeheuer wichtig gewesen, einen Darsteller zu wählen, dessen Präsenz sein Schauspiel überstrahlt. Bei Bruce Greenwood tritt eher der umgekehrte Fall ein. Er liefert eine durchaus überzeugende Performance, weiß Furcht, Agonie der Verzweiflung, Resignation, aber auch Humor, Intelligenz und Souveränität auf den Punkt genau hervorzubringen, allein fehlt ihm die Überlebensgröße, mit der etwa ein Vincent Price dieselbe Rolle vor 63 Jahren verkörperte.
Greenwood wirkt manchmal ein wenig zu klein für das Bild, seine Persona zu schmal für die großen Fußstapfen der Figur. Dank seiner schauspielerischen Mittel bindet der den Betrachter trotzdem mühelos an sich und öffnet den Zugang zu den restlichen Darstellern. Hier finden wir weitere Vertraute; sämtliche Ushers und viele weitere Nebenfiguren sind besetzt mit Schauspielern, die in mindestens einer Serie oder einem Film unter der Regie Flanagans bereits vertreten waren. Seine Ehefrau, Kate Siegel, hat wenigstens noch Spaß an der Karikatur, die ihr zugewiesen ist, ähnlich wie Henry Thomas. Andere wiederum wie Rahul Kohli, Samantha Sloyan, T’Nia Miller oder Sauriyan Sapkotan haben größere Probleme damit, ihr Profil zu füllen. In Teilen mag das einfach daher rühren, dass es storybedingt unter ihnen keine Sympathieträger geben kann, doch auch die dunkle Seite umarmen sie nicht alle gleichermaßen leidenschaftlich; manche von ihnen bleiben zu sehr in den sicheren Grautönen kleben.
Dafür überzeugt Mark Hamill als aalglatter Familienanwalt, Mary McDonnell als eiskalte Schwester des Oberhaupts… und allen voran Carla Gugino, die als personifizierter Tod durch sämtliche Episoden geleitet und mit ihrer verführerischen, gleichwohl Verderben bringenden Aura den roten Faden und das erzählerische Gegenstück aus dem Jenseits liefert. Man könnte auch sagen, dass sie als Symbol für Poes Lebenswerk steht, denn ihre Figur ist eine einzige große Reverenz gegenüber dem Dichter und Autor. „Der Untergang des Hauses Usher“ bleibt keineswegs bei seinen Wurzeln, die Kurzgeschichte ist lediglich das Geäst, an dem eine Werkschau zu Poe aufgehangen wird wie morbider Weihnachtsschmuck. Ein Lexikon bekannter Namen von Personen und Orten, durch deren Hände und in deren Räumen modernisierte Variationen seiner bekanntesten Arbeiten gereicht werden… von „Die Maske des roten Todes“ bis „Die Morde in der Rue Morgue“, von „Das verräterische Herz“ bis „Die Grube und das Pendel“, von „Die schwarze Katze“ bis „Der Rabe“, teilweise als bestimmendes Thema einer Folge, teilweise auch elegant miteinander kombiniert und manchmal mit Einflüssen aus dem 21. Jahrhundert angereichert, von medizinischer Forschung bis zur Entwicklung künstlicher Intelligenzen.
Überhaupt arbeitet die Serie bei allen stilistischen Bezügen zum Gothic Horror des frühen 20. Jahrhunderts auch ganz gezielt die moralischen Implikationen für die heutige Zeit heraus. Die oftmals verzweifelt wirkenden Versuche der Erben, ihren Reichtum für ein sinnerfülltes Leben einzusetzen, das im Idealfall die Gesellschaft verändert, thematisiert eine Furcht vor der Sinnlosigkeit der Existenz sowie zugleich die Furcht vor der Verantwortung des Einzelnen, wie sie im Zuge globaler Krisen brandaktuell permanent in den Medien behandelt werden. Weil die Handlung per Rückblende auch immer wieder ins Jahr 1979 zurückfällt, in dem die Ushers ihre Entscheidung besiegelten, wird das Thema „Generationenvertrag“ mit den Händen greifbar; ein Konstrukt, das anno 2023 ebenso im Zerfall begriffen scheint wie das Imperium der Ushers, welches somit zu einer Allegorie gerät für den schiefen Kurs, auf dem sich die Menschheit nach dem Jahrtausendwechsel befindet.
Natürlich endet „Der Untergang des Hauses Usher“ genau so, wie es enden muss. Hier sind sich die meisten Adaptionen einig. Die Dialoge verwandeln sich mehr und mehr in kraftvolle Poesie, Blitz und Donner bäumen sich noch einmal auf und der Paukenschlag ertönt praktisch Schlag Mitternacht. Flanagan möchte auch im Zeitalter unvollendeter Werke keine Ausnahme machen und liefert einen pompösen Schlussakkord, der pünktlich wie das Feuerwerk zum Jahreswechsel über die Bühne geht und nicht mehr, aber auch nicht weniger als das Erwartete abbrennt. Seine Kniffe mögen an der ein oder anderen Stelle vorhersehbar geworden sein, oder sie sind es immer schon gewesen; es ist ja auch gerade die merkwürdige Vertrautheit des Unheimlichen, die Autoren wie Poe so bildhaft haben schreiben lassen. Dies ist keine Revolution des filmischen Erzählens, es ist aber der rundum zufriedenstellende Abschluss eines Triptychons, das mit „Spuk in Hill House“ und „Spuk in Bly Manor“ begann, um nun mit den Ushers geschlossen zu werden… zumindest bis die nächsten Geister der Vergangenheit beschworen werden.
Schaut in den Trailer von “Der Untergang des Hauses Usher”
„Der Untergang des Hauses Usher“ kann seit dem 12. Oktober vollständig via Netflix abgerufen werden.
Sascha Ganser (Vince)
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