Originaltitel: Die Abenteuer des Prinzen Achmed__Herstellungsland: Deutschland__Erscheinungsjahr: 1926__Regie: Lotte Reiniger, Carl Koch |
Träume, die in die Ferne schweifen. Geträumt von Lotte Reiniger, der Frau mit den Scherenhänden. Ihre Träume müssen zwangsläufig die Gestalt kunstvoll verschnörkelter Silhouetten annehmen, die wie Zahnräder ineinander verlaufen. So verlangt es schließlich die ureigene Ausdrucksform, von der die Konstrukteurin in ihrem Schaffen angetrieben wird. Kein anderer Ausdruck als dieser wäre ihr vertraut. Schwarze Formen auf viragiertem Grund, Bild für Bild zuerst in Bewegung, dann in Wandel versetzt, um mit flatternden Fahnen und fliegenden Pferden der Fantasie freien Lauf lassen zu können. Der Realismus bleibt in den Schatten des schwarzen Kartons verborgen und somit der blühenden Fantasie ausgesetzt. Zurück bleiben lediglich Konturen, stellvertretend für die Quintessenz morgenländischer Kunst und Architektur, Muster bildend, die wiederum zur Wiedererkennung kultureller Besonderheiten führen. Ein womöglich naiver, ein oberflächlicher Blickwinkel auf eine Welt, die ja durchaus ganz andere Wahrheiten in der nicht sichtbaren dreidimensionalen Dimension verbergen könnte. Aber gerade diese Naivität ist es, mit der die Träumende auf ihrem geflügelten Ross an Höhe gewinnt.
„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ ist mehr als einfach nur der älteste noch erhaltene Langspiel-Animationsfilm, den die Filmgeschichte kennt. Das aus 250.000 Einzelbildern zusammengestellte und in der finalen Fassung auf 96.000 Einzelbilder eingedampfte Stop-Motion-Abenteuer ist eine spielerische Annäherung an die Wunder von 1001 orientalischen Nächten, eingefangen aus der Perspektive des Okzidents, letztlich vergleichbar einem Versuch, mit selbst gebastelten Flügeln gen Morgensonne zu fliegen. Mit reinster Unbefangenheit gelingt es der Illustratorin, noch in den Anfangsjahren der Filmgeschichte ihre eigene Ästhetik zu definieren. Sie muss einfach nur ins Blaue navigieren, voll und ganz auf ihr eigenes Kunsthandwerk vertrauend. Die Märchenthematik ist dabei lediglich ein Vorwand, um das nicht Abbildbare zu beschwören und es abzubilden, und zwar auf eine Weise, wie man es in einer Erinnerung weiterleben lassen würde. Dunkel, vage, Inhalte nur andeutend, anstatt sie für das Auge ganz direkt auszuformulieren. Bilder ohne Fläche; nur ein Rahmen, der sich fortwährend neu ausrichtet.
In fünf klassischen Akten wird mit diesen Mitteln die verschachtelte Struktur der Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“ nachgestellt. Mit dem Titelhelden gibt es zwar einen festen Protagonisten, die einzelnen Akte unterscheiden sich in Sachen Setting, Erzählrahmen und Figurenrepertoire aber drastisch voneinander und sind auch in sich selbst fragmentiert. Von der ersten Minute an ist diese Lust der Macher zu spüren, möglichst viel von den fremdartigen Ländern, ihren Völkern und ihren Kreaturen zu zeigen, ohne sie jemals explizit im Lichtkegel ausstellen zu müssen. Wagnisse werden dabei inhaltlich eingegangen, denn Subtexte und symbolischer Ausdruck erweisen sich in Bezug auf Themen wie Völkerverständigung oder Homosexualität streckenweise als überaus progressiv und stehen im Kontrast zur konservativen Ausgestaltung der Kulisse. Reinigers persönlicher Umgang mit Akteuren der Theaterszene so wie überhaupt ihr privates Umfeld scheinen einen Einfluss auf die Auswahl der Motive genommen zu haben, so dass sich letztlich auch das revolutionäre, politisierende Kunstverständnis der Weimarer Republik in ihnen spiegelt, nicht allzu lange bevor sich das Klima für Künstler in Deutschland radikal verändern würde. Die Inszenierung kehrt derartige Ansätze aber nicht in lautstark artikulierten Revolutionsgedanken heraus, sondern lässt sie leise flüsternd, praktisch widerstandslos durch den Fabelrahmen fließen, um sie einzubetten in einen Zustand der Natürlichkeit.
Die spezielle Scherenschnitt-Animationstechnik ist letztlich ausschlaggebend für diese Eindrücke von stiller, aber zugleich kraftvoller Individualität. Um das Fundament für die Animation zu legen, braucht es nichts als eine Schere, Karton, Drähte, Butterbrotpapier und eine Kamera. Figuren, Gebäude und Hintergründe entstehen aus diesen Zutaten gleichermaßen, sie verschmelzen auch in Aktion miteinander, da es weder dreidimensionale Tiefe noch farbliche Abstufungen gibt, durch welche die Objekte voneinander getrennt werden könnten. Das erlaubt der Künstlerin ein schier endloses Spiel mit der Imagination des Betrachters. Formwandler kreuchen und fleuchen an jeder Ecke durch die Fauna, selbst Bäume können ihr Blattwerk ablegen und sich als bizarre Elefantenmonster entpuppen. Ganze Gebäude schweben einfach durch die Luft, so wie überhaupt Distanzen keinerlei Bedeutung haben, und in einem spektakulären Kampf zwischen Zauberer und Hexe wird praktisch die berüchtigte Duell-Sequenz aus Disneys „Die Hexe und der Zauberer“ vorweggenommen, so wie Disneys Trickfilmkosmos überhaupt seine wesentlichen Ursprünge in Reinigers Scherenschnitt-Reichen wiederfinden dürfte.
Weil man letztlich nur ein Ballett der wandelbaren schwarzen Flächen zu sehen bekommt, die vor kolorierten Hintergründen munter rotieren, könnte man natürlich das Ausbleiben emotionaler Feinheiten monieren, die manch einem als Seele des Kinos gelten. Tatsächlich bleiben diese Aspekte im Rudimentären verhaftet, zumindest wenn man rein nach den visuellen Reizen geht. Dass die Figuren aber eine ansteckende Lebendigkeit mit sich führen, die von schwingenden Gliedmaßen über einzeln animierte Finger bis hin zu sich bewegenden Pupillen reichen, wird man als Betrachter vermutlich nicht bestreiten. Ist man dazu in der Lage, die von knappen Zwischentiteln transportierten Inhalte auf die schwarzen Flächen im Bild zu projizieren, ergibt sich weit mehr als eine bloße Verschiebung von Mustern. Zumal auch mit den Hintergründen gearbeitet wird, um eine gewisse Räumlichkeit zu erzeugen, wenn zum Beispiel deren Flächen unscharf werden, um zu signalisieren, dass sich die Figur von dem dargestellten Objekt entfernt. Keine Frage, der Orient lebt, in all seiner Vielfalt.
Nicht zuletzt trägt die Originalmusik von Wolfgang Zeller zur Nachvollziehbar- und Nachfühlbarkeit der Geschichte bei, wurde sie doch punktgenau auf die dramaturgischen Veränderungen und die Höhepunkte der jeweiligen Akte angepasst. Gleichwohl ist sie nicht untrennbar mit dem Film verankert, existieren doch alleine auf der Blu-ray noch zwei weitere Tonspuren, die ihre eigenen Akzente setzen.
Für die filmhistorische Bedeutung von „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ ist aber natürlich letztlich sein allgemeiner Einfluss auf den Animationsfilm als Pioniersstück ausschlaggebend. Zeichentrickfilm blühte kurze Zeit später auf und stieß mit den Jahrzehnten durch den technischen Fortschritt auf immer mehr Möglichkeiten zur Entfaltung. Ob man nun die in der Disney-Manufaktur angefertigten Meisterwerke vom Laufband in Betracht zieht, die störrischen Werke eines Marcell Jankovics („Der Sohn der weißen Stute“) oder direkt in Tradition von Lotte Reiniger stehende Künstler wie Jörg Herrmann, sie alle erlauben mit ein wenig Fantasie den Rückbezug auf die ersten Atemzüge lebendig gewordener Scherenschnitte.
Schaut in den Trailer zur Blu-ray-Veröffentlichung
Die Auswertungsrechte für „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ liegen bereits seit geraumer Zeit bei Absolut Medien. Bereits 2005 veröffentlichte der bayerische Filmverlag, der leider kürzlich seinen Abschied angekündigt hat, den Animationsfilm auf einer DVD in Form der 1999 vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main angefertigten Rekonstruktion bzw. Restauration, basierend auf einem Nitro-Positiv im Besitz des British Film Institute, das für den britischen Markt selbst eine Heimkino-Fassung anfertigte. Im Jahr 2018 erschien dann eine Blu-ray, die auf einen neuen 2K-Tranfern von 2013 zurückgreifen konnte. Mit an Bord sind drei Tonspuren: Die Originalmusik von Wolfgang Zeller in einer Kammermusikbearbeitung von Jens Schubbe, eine Live-Vertonung der gebrüder Teichmann und Leopold Hurt sowie eine kammermusikalische Quintettfassung von I Salonisti. Untertitel werden in Englisch, Arabisch, Chinesisch, Französisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch angeboten. Deutsche Untertitel sind nicht vonnöten, da die Musikspur von deutschen Zwischentiteln begleitet wird, die auf Grundlage der Zensurkarte angefertigt wurden. Als Bonusmaterial ist ein Archiv-Interview mit Lotte Reiniger (13 Min.) an Bord sowie vier ihrer Kurzfilme: „Das Geheimnis der Marquise“ (1922), „Harlekin“ (1933), „Carmen“ (1933) und „Papageno“ (1935). Ferner enthalten ist ein 24-seitiges Booklet mit reichhaltigen Informationen zu Lotte Reiniger, zum Film,, zur musikalischen Begleitung und zur Restauration.
Sascha Ganser (Vince)
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