Originaltitel: Hereditary__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 2018__Regie: Ari Aster__Darsteller: Toni Collette, Gabriel Byrne, Alex Wolff, Milly Shapiro, Ann Dowd, Zachary Arthur, Mallory Bechtel, Mark Blockovich, Gabriel Monroe Eckert, John Forker, Austin R. Grant, Rachelle Hardy u.a. |
Mit einem Zoom-In nähert sich die Kamera dem Modell eines Puppenhauses und fokussiert auf ein Zimmer, dessen Wände zur Einsicht entfernt sind. Diesmal wird die Vierte Wand von außen durchbrochen, nicht wie üblich von innen. Plötzlich betreten nämlich reale Akteure, Gabriel Byrne und Alex Wolff, die Miniaturszene und gehen dort ihrem Alltag nach wie eine kleine Sitcom-Familie. Der Zoom-In entpuppt sich schließlich als Infinite Zoom, denn das Puppenhaus befindet sich wiederum in dem Haus, das es abbildet.
Distanz und daraus abgeleitete Isolation innerhalb dysfunktionaler Familienstrukturen gehören zu den zentralen Themen von „Hereditary“, das als Genre-Werk im Spannungsfeld von Psychodrama und übernatürlichem Horrorfilm bestimmt nicht aus dem Nichts kommt. Die Architektur des Hauses steht im Erbe einer Reihe von amerikanischen Horrorfilmen, die sich in den letzten Jahren auf eine bestimmte Ästhetik geeinigt haben. Der großzügige Schnitt und die klaren Linien der Wohnbereiche stehen im Kontrast zu dem klaustrophobischen Empfinden, das die schwebenden Kamerafahrten in den Gängen erzeugen; dunkel gestrichene Wände absorbieren ähnlich wie bei „Insidious“ oder „Sinister“ umgehend wieder den Raum, den breite Türrahmen und hohe Decken eigentlich bieten. Die Geräumigkeit des Hauses wird zum Gefängnis umgedeutet; abgesehen vom Familienvater, der einzigen „normalen“ Figur des Films, halten sich alle anderen Figuren nur selten außerhalb ihrer privaten Rückzugsorte auf. Und wenn sie in Gemeinschaftsräumen wie dem Ess- oder Wohnzimmer zusammentreffen, dann normalerweise, um Meinungsverschiedenheiten auszutragen und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen.
Das Puppenhaus-Motiv mag als Leiter auf den Meta-Dachboden eine durchschaubare Wahl sein, verknüpft aber Form und Inhalt auf brillante Weise miteinander. Wie es der Familienmutter ermöglicht, sich von ihrem eigenen Körper zu lösen und als passive Beobachterin sich selbst und ihr Umfeld aus der Ferne zu betrachten, erinnert ein wenig an Katsuhito Ishiis surreales Drama „The Taste Of Tea“ (2004), in dem ein Mädchen ständig von einer riesigen Kopie ihrer selbst beobachtet wird. In der Komposition der Gruselsequenzen pflegt es dabei eine alte Tradition, die dem zuletzt so modischen Jump Scare völlig zuwiderläuft. Indem es jeden Raum als kastenförmiges Panorama präsentiert und auch die darin befindliche Gefahr nicht verhüllt, verdammt es den Betrachter zur Teilnahmslosigkeit; wie damals in „Psycho“, als man „Mutter“ aus der Vogelperspektive zielstrebig über den Gang Richtung Opfer laufen sieht, ohne das arglose Opfer warnen zu können. Im Umkehrschluss spielt sich auf der akustischen Ebene allerdings auch Unheimliches im Off ab, das sich ohne Vorwarnung manifestiert. Geräuschkonditionierungen, die nicht nur die Heimgesuchten zusammenzucken lassen, sorgen dann doch wieder für den ein oder anderen Jump Scare. Der Zoom-In wird somit zum Dolly Zoom, wenn lange Fahrten ins Herz des Grauens und unmittelbare Schreckmomente sich zur Koexistenz verabreden.
Werft einen Blick hinter die Fassade des Puppenhauses: Der Trailer zu “Hereditary”
httpv://www.youtube.com/watch?v=Vsim4zLARzI
Der feine Unterschied zu den schrillen Jahrmarktseffekten für das Popcorn-Kino: Jede Geste, jedes Geräusch, jeder Randbemerkung ist psychologisch unterfüttert. Es ist ein unheimlich schwermütiger Film, in der ersten Hälfte zweifellos eine nahezu lupenreine Tragödie, die an psychologischer Härte kaum zu übertreffen ist. Der herausragenden Kamera von Pawel Pogorzelski gelingen in den Schlüsselsequenzen, in denen Entsetzen, Panik und Unbegreiflichkeit hervorbrechen, sogar vereinzelt Innovationen. Die Verdrängung des Entsetzens dirigiert er mit Close-Ups auf Gesichter, die völlig von der Rolle sind. Ihre Wahrnehmung zeichnet er mit kurzen Schwenks nach, die stets vor der direkten Konfrontation abbremsen – wie in der unbeschreiblichen Szene mit dem Jungen, der auf der nächtlichen Landstraße sein Auto zum Stehen bringt. Ohnehin ist das reine Handwerk, der effektive Schnitt inbegriffen, über jeden Zweifel erhaben.
Die Überschneidungspunkte zwischen den beiden Genre-Bestandteilen, die den ersten Teil vom zweiten unterscheiden, liegen in der Unerträglichkeit des Verlusts. Toni Collette hat in ihrer Karriere schon große Leistungen in vergleichbarer Disziplin gebracht (etwa beim stimmungstechnisch ähnlich gelagerten „The Sixth Sense“), aber ihre Annie Graham ist unzweifelhaft ihr Meisterstück. Daneben verblassen sogar die extrem guten Leistungen der Nebendarsteller, unter denen Milly Shapiro vielleicht noch heraussticht. Deren ungewöhnliches Erscheinungsbild wird vom Drehbuch zwar möglicherweise für weiterführende Zwecke instrumentalisiert, es fällt aber zu keiner Zeit stereotypen Abbildungen zum Opfer, gerade weil es im eigentlichen Sinne gar nicht thematisiert wird. Rund um die Rolle von Alex Wolff ergeben sich wiederum klassische Coming-Of-Age-Situationen mit typischen Alltagsproblemen von Jugendlichen, eine grundsätzlich natürliche Entwicklung suggerierend, die von den unheimlichen Geschehnissen innerhalb seiner Familie jedoch immer wieder gnadenlos unterbrochen wird. Ironisch ist es, dass Gabriel Byrne (“Der Staatsfeind Nr. 1“) als einzige verbliebene Identifikationsfigur mit rationalen Verhaltensmustern zur Unzugänglichkeit verdammt ist. Er erscheint wie die Erinnerung aus einem fernen Traum, völlig unfähig, an den unaufhörlich eskalierenden Ereignissen irgendetwas ändern zu können.
Man mag zweiten Hälfte, die deutlicher dem (übernatürlichen, unerklärlichen) Horror zugewandt ist, vielleicht anlasten können, dass sie nicht mehr die emotionale Intensität des Drama-Teils erzeugen kann. Damit allerdings täte man der Effektivität der vortrefflich konzipierten Horrorsequenzen völlig unrecht. Auf dem Papier klingt die angeschnittene Thematik vielleicht wenig reizvoll (auch weil sie im kunstbewussten Horrorfilm seit geraumer Zeit ohnehin wieder eine Renaissance erlebt, ergo nichts Neues bietet), die Umsetzung zerrt allerdings ebenso hartnäckig an den Nerven wie der Einstieg und weiß verstörende Situationen zu bieten, die noch viele Nächte nachhallen werden. Wobei das Finale im Baumhaus nur zu den experimentierfreudigsten Exemplaren aus der Zuschauerschaft durchdringen werden.
„Hereditary“ ist unter dem Strich der vielleicht beste Film des Jahres 2018, erst recht für ein Langspiel-Regiedebüt. Nach „Mother!“ aus dem Vorjahr trifft es nicht umsonst wieder einen psychologischen Horrorfilm: Das Genre ist dank seines neu entfachten Willens zur Reform momentan auf einem lange nicht mehr gesehenen Höhenflug. Ari Aster strebt danach, in die privatesten Vorgänge seiner Zuschauer einzudringen und erwischt dabei viele auf dem falschen Fuß. Es ist kein radikales Kino, weil Aster nicht zögert, auf einen etablierten Konsens zurückzugreifen. Doch diesen baut er annähernd bis zur Perfektion aus und entzieht einem vermeintlich schon wieder ausgelutschten Thema noch wertvolle Substanz.
Informationen zur Veröffentlichung von “Hereditary”
Im Juni 2018 lief “Hereditary” in den deutschen Lichtspielhäusern und lockte leider nur 120.000 Zuschauer in die Kinosäle. Es bleibt zu hoffen, dass er zumindest in möglichst vielen Heimkinos nachgeholt wird. Die Möglichkeit dazu hat man seit dem 26. Oktober 2018 durch die Blu-ray und DVD von Splendid Film, die neben dem Hauptfilm in Deutsch und Englisch ein 20-minütiges Making-Of bietet, den Kinotrailer sowie 17 Minuten an gelöschten Szenen. Über Müller war außerdem ein limitiertes Blu-ray/DVD-Bundle im Mediabook zu erwerben. Enthalten darin ist ein 20-seitiges Booklet mit Produktionsinformationen, Interpretationsansätzen sowie einem Interview mit Regisseur Ari Aster.
Sascha Ganser (Vince)
Bildergalerie von “Hereditary”
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