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Ich habe meinen Körper verloren

Originaltitel: J’ai perdu mon corps__Herstellungsland: Frankreich__Erscheinungsjahr: 2019__Regie: Jérémy Clapin__Sprecher: Hakim Faris, Victoire Du Bois, Patrick d’Assumçao, Alfonso Arfi, Hichem Mesbah, Myriam Loucif u.a.

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Poster

Das französische Poster von “Ich habe meinen Körper verloren”

Wir sehen, zuallererst. Gegenstände, Gesichter. Buchstaben. Bewegungen, perspektivische Verschiebungen. Wir interpretieren Einzelbilder und Filme. Ein warmer Luftzug auf der Haut kann die Wahrnehmung dabei vielleicht beeinflussen, oder ein Basston, der sich in den Magen und ins Trommelfell gräbt. Doch vordergründig sieht das Auge. Es dirigiert die Konstruktion der Realität, indem es als ihr Architekt funktioniert. Dabei gibt es in der Interaktion mit der Umwelt wohl kein passiveres Sinnesorgan, keines, das weiter von der Realität entfernt ist, die es selbst konstruiert.

Die Feststellung „Ich habe meinen Körper verloren“ tätigt im gleichnamigen Animationsfilm allerdings eine Hand. Das abgetrennte Körperteil klagt den Filmtitel in die Welt hinaus, als es versucht, ohne Anweisung von oben selbstständig seine fünf Glieder zu koordinieren und Balance zu wahren. Wir folgen zunächst den unbeholfenen Fingerstapfen dieser krabbelnden Unmöglichkeit, die sich danach sehnt, ihre Impulse endlich wieder an das Stammhirn senden zu können. Was wir da beobachten, ist das Resultat der gewaltsamen Entkopplung eines Sinns von seinem Organismus. Schreiende Symbolik macht in Gestalt dieser rudimentären Lebensform auf sich aufmerksam. Es ist aber nicht etwa einseitig die Hand, die unter einem erlittenen Verlust leidet. Auf der anderen Seite des Tunnels hört man ebenso das wehklagende Echo des Körpers, der seinerseits etwas Verlorengegangenes sucht.

Ich habe meinen Körper verloren

Auf eine helfende Hand beim Nestbau verzichtet diese Taube gerne.

So wird die noch kurze Lebensgeschichte des jungen Erwachsenen Naoufel schon bald anhand einer durchgehenden Parallelmontage entzwei geteilt. Formal betrachtet folgt der Erzählstil damit der Trennung von Körper und Hand, zurückgehend auf ein (im wahrsten Sinne) einschneidendes Ereignis, dessen Zustandekommen erst spät im Film aufgelöst wird. Regisseur und Drehbuchautor Jérémy Clapin versucht, die Sehnsucht nach Vervollständigung in beiden Handlungssträngen begreifbar zu machen, um ihre unvermeidliche Wiederbegegnung in Gang zu setzen.

Gewissermaßen verbergen sich hinter Clapins freier Romanadaption zwei erzählerisch höchst unterschiedliche Kurzfilme, die hauptsächlich durch ein Detail miteinander verwachsen sind, ein Muttermal auf der Fläche zwischen Zeige- und Mittelfinger, das in beiden Handlungssträngen als Identifikator dient. Auf der einen Seite haben wir dieses merkwürdige Road Movie in all seiner überbordenden Vielfalt an Sinnesreizen. Sein Protagonist, die Hand, stolpert hindurch wie ein Artefakt, das von einer surrealistischen Buñuel-Fantasie abgebröckelt ist. Die Kulisse um die Hand herum wechselt derweil so rasant ihre Gesichter wie in einem dieser düsteren Abenteuerfilme für Kinder, die kurt davor stehen, zu begreifen, dass die Welt da draußen rauer ist als das behütete Heimatnest. „Alice im Wunderland“, „Der Zauberer von Oz“ oder „Feivel der Mauswanderer“ hinterlassen ihre Spuren, als sich die Hand auf Häuserdächern Ringkämpfe mit einer Taube und auf Bahngleisen mit einer Meute hungriger Ratten liefert. Physikalische Gesetze und zufällige Korrelationen bestimmen in dieser Filmhälfte den Ablauf. Genauso gut hätte man ein Blatt abfilmen können, das von der Baumkrone fällt und von einem Rinnsal in einen Bach getrieben wird, vom Bach in einen Fluss und vom Fluss ins Meer.

Ich habe meinen Körper verloren

Wenn die Kundin kein Trinkgeld gibt, wird die Pizza halt einfach vom Lieferboten verputzt.

In der anderen Hälfte des Films wird durch Rückblenden auf das Leben Naoufels Stück für Stück ein Puzzle aus Erinnerungen vervollständigt. Sand an den Füßen, eine Schnecke, die bei Berührung ihre Fühler einzieht. Die Noten, die entstehen, als Naoufels Mutter ihre Finger über die Tasten des Pianos gleiten lässt. Sekundäre Sinneseindrücke scheinen die Erinnerungen aus der Kindheit geprägt zu haben, während die nackten Projektionen des Auges im Weichzeichner verschwimmen. Clapin vermittelt diesen Effekt eindringlich durch spezielle Perspektiven, durch den assoziativen Schnitt oder auch das immersive Sounddesign. Die Rückblenden verlaufen zunächst hastig in geraffter Form und dehnen sich schließlich immer weiter aus, bis sich kurz vor der Trennung von Hand und Körper in allen Details eine Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und einer jungen Frau entwickelt, bei der jedoch die Liebe zur Wahrhaftigkeit der Realität stets oberstes Gebot bleibt.

Selbst der Animationsstil schließt sich der Dualität des Storyboards an, er nutzt die 3D-Räume der Animationssoftware, um 2D-Objekte auf ihnen wachsen zu lassen. Das Ergebnis sind plastische, dynamische Räume, die durch ihre charakteristische Linienführung etwas Handgemachtes ausstrahlen, das anhand reiner 3D-Animation nicht hätte vermittelt werden können. Viele menschliche Figuren gilt es nicht zu animieren, diverse Einstellungen werden von gekonnt in Szene gesetzten Alltagsstillleben geprägt, in denen Randfiguren auch mal mit dem Hintergrund verschmelzen. Als sich Naoufel in der Bahn zum Beispiel kurzerhand doch noch dazu entscheidet, seiner Zufallsbekanntschaft zu folgen, um erstmals ihr Gesicht zu sehen, ist sie in der Kolorierung durch leuchtende Farben hervorgehoben, während die anderen Passagiere zum Interieur der Fahrkabine werden. Klar hervorzuheben ist außerdem der melancholische Soundtrack von Dan Levy, der beinahe dazu führt, dass man die Illustrationen als solche vergisst und nurmehr ihre besondere Haptik mit den Klängen verbindet. Anstelle selektiver Schlüsselbilder ist es diese Verbindung, die vom Film nachhallt.

Ich habe meinen Körper verloren

Naoufel lässt sich von Gabrielle verarzten, ohne zu wissen, dass dies nicht seine einzige Handverletzung bleiben wird.

„Ich habe meinen Körper verloren“ ist sicherlich in seinem stark auf die symbolische Wirkung zugeschnittenen Ausdruck recht einfach gehalten, muss in Hinblick auf die Thematik aber auch keine raffinierten Bögen spannen. Ebenso wenig hat er es nötig, mit Thrill und Suspense Tempo zu erzeugen, obgleich diese Elemente immer wieder für gewisse Momente anschwellen und abklingen. Es genügt ihm, für einen Augenblick die Dominanz der reinen Bilder durch andere Reize zu verdrängen, um dann losgelöst von Zeit und Ort in ihnen zu schwelgen.

(Knapp)
08 von 10

Informationen zur Veröffentlichung von “Ich habe meinen Körper verloren”

Schaut in den Trailer

In Sachen Blu-ray und DVD ist „Ich habe meinen Körper verloren“ ironischerweise auch körperlos – zumindest in Deutschland. Unter anderem in seinem Produktionsland Frankreich ist der Animationsstreifen auch auf Disc zu bekommen. Hier kann man ihn bereits seit mehr als drei Jahren über die Streamingplattform Netflix sehen.

Sascha Ganser (Vince)

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Copyright aller Filmbilder/Label: Netflix__Freigabe: ungeprüft__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Nein/Nein

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