Originaltitel: Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles__Herstellungsland: Belgien / Frankreich__Erscheinungsjahr: 1975__Regie: Chantal Akerman__Darsteller: Delphine Seyrig, Yves Bical, Jan Decorte, Jacques Doniol-Valcroze, Henri Storck |

Das Poster von „Jeanne Dielman“.
Der Tag besteht aus 24 Stunden. Eine Sekunde Kino üblicherweise aus 24 Bildern. Die Handlung von „Jeanne Dielman“ umfasst knapp drei Tage, jeder von ihnen komprimiert auf jeweils rund eine Stunde. Man könnte also sagen, dass sich analog dazu jede Sekunde Film zu einem statischen Einzelbild zusammensetzt, das jeweils ein Portrait der Hauptfigur zeigt. Aneinandergereiht, wird die Statik der Bilder jedoch aufgebrochen, denn jedes von ihnen zeigt unterschiedliche Stadien ihrer Verfassung, auch wenn man die Veränderung auf den einzelnen Bildern nicht sieht.
Rein mathematisch führt das erzählerische Konzept von „Jeanne Dielman“ zu einer Gesamtlaufzeit von etwas mehr als drei Stunden. Die subjektive Wahrnehmung hält sich an Mathematik aber nicht großartig auf: Sie gaukelt einem vor, man verbrächte da in Echtzeit ein komplettes Wochenende mit der Hauptfigur und begleitete dabei jeden einzelnen ihrer Schritte.
Dieses Gefühl entsteht, weil sich dieser Film nicht wie ein Film verhält, sondern vielmehr wie eine Antithese von allem Filmischen. Zu sehen ist fast ausschließlich, was sonst nur allzu gerne dem Schnitt geopfert wird. Es dürfen sich Gewohnheiten, Routinen und Muster des Alltags quasi live vor dem Auge des Beobachters entfalten, ohne spürbar aufgebrochen zu werden, weil die Regisseurin keinerlei Interesse daran hegt, die Regeln eines Unterhaltungsfilms zu befolgen, denen zufolge die Ausnahmen zu zeigen sind, die sich dem eigenen Alltag entziehen. Man meint, eine Collage zu betrachten, die aus den übrig gebliebenen Schnittresten vom Schneidetisch angefertigt wurde. Die vermeintlich pikanten Stellen – mögliche Rückblenden in eine aufrührende Vergangenheit, der Sex im Schlafzimmer, die spontanen Wendungen des Lebens außerhalb der Wohnung – wurden offenbar woanders verklebt.
Doch Chantal Akerman geht bei der Anordnung des vermeintlich überflüssigen Schnittabfalls keineswegs wahllos vor, sondern über die Maßen strukturiert. Immer setzt sie im Kleinen an, bei einer einfachen motorischen Tätigkeit der Hauptdarstellerin, einem Handgriff beim Putzen oder Kochen zum Beispiel. Akerman nutzt solche Handlungsabläufe gewissermaßen wie Morpheme einer Sprache: Durch ihre Form und ihre Anordnung entsteht nicht nur der Alltag der Protagonistin, in den man sich ganz unmittelbar und mit einer für einen Film fast schon bewusstseinsverändernden Intensität hineinversetzt fühlt, sondern zugleich entwickelt sich eine überaus komplexe kinematografische Grammatik, die man sich als Betrachter im Laufe der 200 Minuten schleunigst aneignen sollte, um das Enigma entschlüsseln zu können, das die Titelfigur darstellt.
Jeanne Dielman, eine alleinstehende Mutter, die mit ihrem Sohn in einer Wohnung in Brüssel lebt, wo sie in seiner Abwesenheit während des Tages gelegentlich auf ein Kind aufpasst und später auch Freier empfängt, verrät weder durch Worte noch durch Emotionen viel über ihr Innenleben, nicht einmal dann, wenn die Kamera mit ihr alleine ist. Delphine Seyrig legt sie als eine Frau an, die ihre gesellschaftliche Maske nicht nur für Außenstehende aufsetzt, sondern auch für sich selbst. Auch dem Zuschauer, der bei der Filmrezeption normalerweise die Rolle des unsichtbaren Zeugen einnimmt, dem auch intime Momente der Einsamkeit nicht entgehen, bleibt der Zugang zu physischen und mentalen Räumen somit verschlossen.
Schaut in den Trailer zu „Jeanne Dielman“
Dass Handlung, Dialog und schauspielerischer Ausdruck von der Regisseurin derart gnadenlos amputiert werden, muss als radikales Mittel verstanden werden, das einerseits soweit geht, die ursprünglichen Konventionen des Kinos zu attackieren, das andererseits aber eben auch neue Alternativen anbietet. In sorgfältig kadrierten, oftmals 1:1 wiederkehrenden Bildkompositionen wird die Wohnung als ockergelbes Vakuum kartografiert und dann mit den alltäglichen Bewegungsabläufen gefüllt, mit denen Akerman ihre Geschichte schlussendlich erzählt. Die Bildung von Mustern durch Wiederholung und deren subtile Abweichungen durch den menschlichen Faktor sind hier wichtige Parameter, die über den bewusst gewählten Zeitraum von drei Tagen eine aufwühlende Dramaturgie annehmen, die auf der Oberfläche kaum mehr Unruhe erzeugt als leichte Wogen auf einem sonst glatten Meer, darunter allerdings immer mehr Druck aufbaut. Seyrig lässt ihre Figur agieren wie einen Roboter, der droht, durch eine Fehlfunktion zu implodieren. Der perfekt durchgetaktete Ablauf des ersten Tages, in dem oft mehrere Handlungen simultan miteinander verwoben werden, bis ein komplexer Ablauf wie in einer Industrieanlage entstanden ist, verliert mit jeder folgenden Kopie an Präzision. Auf einmal schließt der Schrank nicht mehr richtig, die Kartoffeln misslingen oder der Lieblingsplatz im Café um die Ecke ist bereits besetzt. Und weil die Zeichen so klein sind, ist ihr Gewicht umso größer.
Herausragend ist die Regisseurin vor allem darin, etliche Indikatoren für den schleichenden Verfall der Ordnung auf natürliche Weise einzubauen und unmittelbar mit der Psychologie der Hauptfigur zu verknüpfen, ohne den Umweg über das Gesicht als emotionalen Spiegel gehen zu müssen. Die nach außen hin eindimensionale Kommunikation mit dem Sohn, die sich im Wesentlichen nur um Situatives dreht, nimmt am Abend, als die Gemüter nachdenklicher werden, jeweils eine Wendung ins Unterbewusste. Hier werden auf einmal Andeutungen zur Vergangenheit der Familie gemacht und Rollenbilder wie Sexualität diskutiert sowie Erziehungsaspekte angedeutet, die nicht zuletzt auch Rückschlüsse auf die Identität Jeanne Dielmans zulassen, mit denen ihr bisweilen widersprüchlich wirkender Lebensentwurf langsam entschlüsselt werden kann.
Der dargestellte Alltagstrott könnte zu dem Urteil verleiten, dass das Drehbuch nicht genug Entwicklung in Gang setzen würde, um die Ausschweifungen zu rechtfertigen, doch das Gegenteil ist der Fall. Zunehmend wird das unbewusste gegen das absichtsvolle Handeln ausgespielt, als nicht einfach nur Fehlschläge vormals gelungener Operationen sukzessive angehäuft werden, sondern auch Bemühungen des Experimentierens erkennbar werden, und zwar in einer Form des Protests gegen den Status Quo, als Versuch des Ausbruchs aus dem Hamsterrad. Wiederum findet Akerman immer wieder subtile Mittel, diese Versuche einzuleiten; in der Art, wie Jeanne ihren Kaffee trinkt, wie sie ihr Haar behandelt oder wie sie versucht, einfühlsamer mit dem Baby der Nachbarin zu interagieren.
Schließlich ist „Jeanne Dielman“ natürlich trotzdem Film genug, um einen finalen harten Schlag zu setzen, um endlich die Metamorphose in das Filmische hinein zu vervollständigen und in einem dunklen Wohnzimmer voller Stille ausklingen zu lassen. Doch selbst in dieser Anpassung an die Konventionen bewahrt die nun zum Drama avancierte Regiearbeit ihre Klasse, weil sie ihre Pointe als logische Folge der vergangenen drei Tage setzt. Kein Wenn, kein Aber, was die Logik oder die Motivation angeht. Ein stiller Schrei des emanzipatorischen Kinos, der lauter kaum sein könnte.
„Jeanne Dielman“ wartet in Deutschland auch weiterhin auf seine erste Veröffentlichung auf DVD oder Blu-ray. In Frankreich hingegen erschien der Film im November 2023 von Capricci auf Blu-ray. In die renommierte „Criterion Collection“ wurde er sogar bereits 2017 aufgenommen. Das britische Label BFI veröffentlicht im Februar 2025 außerdem eine Werkschau der Regisseurin Chantal Akerman auf 5 Blu-rays – auch hier wird „Jeanne Dielman“ enthalten sein. Deutsche Streaming-Kunden mit einem „Mubi“-Abonnement können derzeit ebenfalls einen Blick riskieren.
Sascha Ganser (Vince)
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