Originaltitel: Nightmare Alley__Herstellungsland: USA/Mexiko/Kanada__Erscheinungsjahr: 2021__Regie: Guillermo del Toro__Darsteller: Bradley Cooper, Cate Blanchett, Rooney Mara, Willem Dafoe, Toni Collette, Ron Perlman, Richard Jenkins, Paul Anderson, Holt McCallany, Clifton Collins Jr., Mary Steenburgen, David Strathairn, Tim Blake Nelson, Jim Beaver u.a. |
Guillermo del Toros künstlerisches Standing darf man nicht unterschätzen: Obwohl der letzte Kassenhit des Mannes schon eine Weile her ist, darf der „Shape of Water“-Oscarsieger seine Visionen ohne Rücksicht auf Trends und Zeitgeist umsetzen und beispielsweise mit „Nightmare Alley“ ein ganz und gar klassisches Noir-Drama vorlegen.
Es beginnt 1939, als Stanton Carlisle (Bradley Cooper) erst die Leiche seines verstorbenen Vaters verbrennt und sich danach auf eine Reise ins Ungewisse begibt, die zu einem wandernden Jahrmarkt bringt. Unter der Leitung von Clem Hoatley (Willem Dafoe) treten dort Menschen wie Bruno (Ron Perlman), der stärkste Mann der Welt, der kleinwüchsige The Major (Mark Povinelli) oder das „Electric Girl“ Molly Cahill (Rooney Mara) auf. Man merkt del Toros Liebe für das Absonderliche und Abseitige, kann Spuren von Werken wie Todd Brownings „Freaks“ in der Darstellung des Jahrmarkts erkennen, wenngleich der Regisseur auf die sonst von ihm gewohnte Phantastik verzichtet, diese sogar mehr oder weniger entzaubert, wenn er erklärt, was hinter jedem Trick und jeder Absonderlichkeit steht – Clem führt sogar aus, wie man an einen Geek kommt, der Hühnern vor zahlendem Publikum den Kopf abbeißt.
Als Assistent der Seherin Zeena (Toni Collette) findet Stanton eine dauerhafte Anstellung beim Jahrmarkt und beweist Kreativität bei der Verbesserung der Attraktionen. Von Zeenas versoffenem Ehemann Pete (David Strathairn) erlernt er außerdem die Tricks des Mentalistenhandwerks: Die geheime Kommunikation mit einer Assistentin, das Lesen von Menschen, kleine psychologische Tricks. Obwohl Pete der Ansicht ist, dass man diese Masche nie wieder anwenden soll, erweist sich als Stanton als gelehriger Schüler. Del Toro macht klar, dass Stanton kein Held ist, eher ein Antiheld, der sich einzuschleimen weiß und stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist – selbst wenn er durch Liebe, wie jene zu Molly, motiviert wird.
Stanton und Molly verlassen das fahrende Volk, als Mentalist zieht er in Chicago eine gut laufende Show mit Molly als Assistentin auf. Dabei trifft er die Psychiaterin Lilith Ritter (Cate Blanchett), die ihn erst erfolglos bloßstellen will. Als reiche Oberschichtler Stanton für Privatvorstellungen und Kontakte mit dem Jenseits buchen wollen, arbeiten der Betrüger und die Psychiaterin zusammen, ohne zu wissen, auf das für Leute sie sich damit einlassen…
httpv://www.youtube.com/watch?v=kMZqYE7IfM4
Man muss den Mut von del Toro bewundern, der sein Ding von vorn bis hinten durchzieht, auf jede Anbiederung an aktuelle Sehgewohnheiten verzichtet. „Nightmare Alley“ ist ein zweieinhalb Stunden langes Noir-Crime-Drama, langsam erzählt, wenn auch mit allen Mitteln, die einem Hollywood-Maestro zur Verfügung stehen. Sowohl die freakige Welt des fahrenden Karnevals als auch das pompöse High-Society-Chicago werden nach allen Regeln der Ausstattungskunst eingefangen, mit einem Mix aus handgezimmerten Locations, liebevoller Requisite und dezenter CGI-Unterstützung, die weniger mit ihren Tricksereien protzt und mehr das Handwerk der Kulissenbauer, Locationscouts und Ausstatter weiterführt. Mit seinem visuellen Stil, seiner opulenten Optik zieht „Nightmare Alley“ von Anfang in den Bann, ist ein Film, an dem man sich gar nicht sattsehen mag.
Das hilft dem Film dann auch darüber hinweg, dass er schreiberisch nicht an seine inszenatorische Ebene heranreicht. Mit „Crimson Peak“ beispielsweise drehte del Toro zwar auch eine klassische Gothic Romance, die aber sehr viele Metakommentare zum Genre und zu Geschlechterrollen enthielt. „Nightmare Alley“ ist dagegen einfach nur klassisches Noir-Kino mit einem amoralischen Antihelden, einer Femme Fatale und einer Verkommenheit, die unter der Fassade der Oberschicht verborgen ist, im Laufe des Films aber zunehmend zutage tritt. Tatsächlich erscheint das fahrende Volk als die aufrechteren Betrüger: Auch diese führen ihre zahlenden Kunden hinters Licht, auch diese nutzen Menschen auf, etwa die Alkoholkranken, die zu Geeks erzogen werden. Doch sie bleiben Außenseiter, die dringend Geld brauchen, die eine Gemeinschaft pflegen und deren Kunden gewissermaßen betrogen werden wollen. Die reichen Chicagoer hingegen sind Menschen, die sich die Welt mit Macht und Geld untertan machen wollen. Gerade Ezra Grindle (Richard Jenkins) beweist selbst bei der Suche nach Vergebung noch menschliche Abgründe.
Leider ist das Treiben psychologisch nicht so stark, wie es sein könnte, ja sogar sein müsste. Eine richtige Charakterzeichnung erfährt in erster Linie Stanton, den „Nightmare Alley“ dafür sehr sauber ausarbeitet. Ein Hustler mit Vaterkomplex, der nie genug bekommt, ein arroganter Emporkömmling, dem jedes Verständnis dafür fehlt, wann er sich verzettelt hat. Lilith legt ihn für das Publikum auf die Couch, taucht in die Seelenwelt dieses kleinen Betrügers ein, der gerne groß wäre. Leider kommt Lilith als zweite Hauptfigur viel zu kurz, vor allem ihre Motivation gegen Ende wird unzureichend erklärt. „Nightmare Alley“ wirft dem Publikum ein paar Brocken zu Liliths Vergangenheit hin, die man so oder so deuten kann, doch scheint mancher Twist gegen Ende eher um des Twists willen da zu sein, nicht weil er sich aus der Figur ergeben würde. Das gilt leider für vieles im Schlussakt: Nachdem sich del Toro vorher viel Zeit lässt, ist gegen Ende Schweinsgalopp angesagt, gerade wenn der vorher abstinente Stanton in Rekordzeit eine Alkoholsucht entwickelt.
Dramaturgisch ungewöhnlich, aber nicht schlecht ist die Zweiteilung des Films: Die erste Hälfte spielt auf dem Rummel, die zweite in Chicago. Denn beide Hälften stehen im Bezug zueinander, Motive aus der Jahrmarktsepisode werden in der Großstadt aufgenommen, variiert und/oder gespiegelt. Dabei lässt del Toro manche Frage bewusst offen. *SPOILER* Etwa jene, ob Stanton seinen Mentor Pete eventuell vergiftet hat, indem er ihm Industriealkohol anstelle von Schnaps gab, oder der Süchtige sich tatsächlich zu Tode gesoffen hat. Gegenüber Lilith gibt sich Stanton als Mörder aus, ist zu jenem Zeitpunkt allerdings bereits als Aufschneider und Lügner bekannt. *SPOILER ENDE* Auch visuell arbeiten del Toro und sein Kameramann Dan Laustsen („John Wick 3“) dabei mit einer interessanten Mischung aus Brüchen und Kontinuitäten: Während beide Hälften düster und noirig inszeniert sind, so dominiert in der ersten Hälfte eher Braun-, in der zweiten eher Blautöne.
Dass „Nightmare Alley“ am Ende des Tages funktioniert, liegt auch an seinem starken Hauptdarsteller. Bradley Cooper („Hit & Run“) beweist mal wieder, dass er nicht bloß ein Hollywood-Beau sein will und überzeugt als komplexbeladener Scharlatan, bei dem man sich auch als Zuschauer nicht sicher ist, inwieweit man ihm glauben kann. Stark ist auch Cate Blanchett („Don’t Look Up“) als wahrhaft fatale Femme, während Rooney Mara („A Nightmare on Elm Street“) als Good Girl solide spielt, aber klar verblasst. Weitere Akzente setzen Willem Dafoe („Zack Snyder’s Justice League“) als verschlagener Jahrmarktchef, Toni Collette („xXx – Die Rückkehr des Xander Cage“) und David Strathairn („Godzilla II – King of the Monsters“) als Mentalistenpaar, Richard Jenkins („Jack Reacher“) als halbseidener Geschäftsmann und Holt McCallany („The Ice Road“) als dessen bedrohlicher Bodyguard. Doch auch in kleinen Parts sind lauter große Namen zu sehen: Auf dem Rummel spielen neben del-Toro-Regular Ron Perlman („Pacific Rim“) auch noch Tim Blake Nelson („Donnie Brasco“) und Clifton Collins jr. („Once Upon a Time in Hollywood“) Kleinstrollen, als Sheriff ist in einer Szene Jim Beaver („Geronimo“) zu sehen, in Chicago tritt Mary Steenburgen („Dirty Girl“) als Ehefrau eines Richters auf.
„Nightmare Alley“ ist famos besetzt, ein optischer Hochgenuss und ein sehr konsequent altmodisches Noir-Drama, das mit den Mitteln moderner Blockbusterkunst in Szene gesetzt wurde. Über weite Strecken überzeugt del Toros Film als Portrait eines nimmersatten Schwindlers, auch wenn gegen Ende schmerzlich auffällt, dass es gerade den weiteren Rollen stark an Substanz und psychologischer Unterfütterung mangelt. Dabei wäre angesichts der opulenten Laufzeit mehr als genug Platz dafür gewesen.
Knappe:
„Nightmare Alley“ wurde in Deutschland von Walt Disney auf DVD und Blu-Ray veröffentlicht und ist ungekürzt ab 16 Jahren freigegeben. Auf VoD ist der Streifen ebenfalls erhältlich.
© Nils Bothmann (McClane)
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