Originaltitel: Snowpiercer__Herstellungsland: Frankreich, Südkorea, USA__Erscheinungsjahr: 2013__Regie: Bong Joon-ho__Darsteller: Chris Evans, Alison Pill, Jamie Bell, Tilda Swinton, John Hurt, Ed Harris, Octavia Spencer, Ewen Bremner, Luke Pasqualino, Song Kang-ho, Kenny Doughty, Steve Park u.a. |
Der neue Film von Südkoreas Meister- regisseur Bong Joon Ho („The Host“) basiert sehr frei auf einem dystopischen Comic aus den 80er Jahren von dem Autor Jaques Lob. Dieser entwarf unter dem Eindruck des Kalten Krieges und der Angst vor atomar geführten Kriegen ein düsteres Weltuntergangsszenario, in dem ein Zug durch eine Art postnuklearen Winter rast und eine Arche für die letzten überlebenden Menschen darstellt. Doch das Leben an Bord des Zuges ist kein Zuckerschlecken und eine Revolte scheint sich anzubahnen. Der in Deutschland als „Schneekreuzer“ veröffent- lichte Comic fand Jahre später zwei eigenständige Fortsetzungen von den Autoren Benjamin Legrand und Jean-Marc Rochette, die ihre Dystopien freilich an den gesellschaftlichen Missständen ihrer eigenen Zeit aufhingen und nicht mehr in die paranoiden 80er zurückblickten. Bong Joon Ho variiert die Comicvorlagen nun stark und folgt dem Vorbild der Fortsetzungen, indem er Probleme unserer heutigen Zeit in seine Version des „Snowpiercers“ einbindet…
2014 hat der Klimawandel dazu geführt, dass sich die Erde permanent aufheizt und ein Überleben der Menschheit nicht mehr gewährleistet werden kann. Die Nationen handeln und reichern die Atmosphäre mit einem künstlichen Kühlmittel namens CW-7 an. Dieser Plan funktioniert leider ein wenig zu gut, denn die Atmosphäre kühlt sich schlagartig extrem ab und Schnee und Eis begraben die Menschheit unter sich. Nur wenige Überlebende retten sich in einen gigantischen Zug des Industriellen Wilford. Der Zug, einst konzipiert wie eine Art Kreuzfahrtschiff, rast fortan auf seiner Strecke um die Erde und legt seine exorbitant lange Strecke genau dreimal im Jahr zurück. 17 Jahre später hat sich an Bord eine unhaltbare Standesgesellschaft etabliert: In den hinteren Waggons vegetieren die Ärmsten der Armen vor sich hin und ersticken förmlich in ihrem eigenen Dreck. Sie ernähren sich von ekelhaften Proteinwürfeln und sind der Willkür der höheren Stände schutzlos ausgeliefert, die sie mit Angst und Terror unter Kontrolle halten. Je weiter man in dem Zug nach vorne kommt, umso mehr hat man es in der neuen Gesellschaft geschafft. Ganz an der Spitze lebt der Erfinder des Zuges im Antriebswagen und lässt sich beinahe gottähnlich verehren.
Doch es regt sich Widerstand. Ein junger Mann namens Curtis kristallisiert sich mehr und mehr als Anführer einer eventuell blutigen Revolte der hinteren Waggons heraus. Eines Tages ergreift er eine sich bietende Möglichkeit und dringt mit seinem Gefolge weit in die vorderen Regionen des Zuges vor. Doch der Kampf erweist sich als sehr verlustreich und seine „Soldaten“ sind von dem entbehrungsreichen Leben im Zug mehr als geschwächt. Er beschließt, nur mit einer Handvoll Mitstreiter weiter vorzudringen und den Zug zu übernehmen…
httpv://www.youtube.com/watch?v=1UcmO-ZKCIQ
Über weite Strecken erinnert „Snowpiercer“ frappierend an „Matrix“. Eine eigenständige Welt innerhalb einer vollkommen zerstörten Welt, die den überlebenden Menschen eine heile Welt vorgaukelt, indem sie bekannte Abläufe und Gesell- schaftsstrukturen imitiert. Mittendrin ein Mann, der sich seiner Heldenrolle erst einmal bewusst werden muss. Beständig auf seinen Fersen: Gut gekleidete Agenten, die beinahe unaufhaltsam durch die Mitstreiter des Helden pflügen. Und der große Gegenspieler ist der Architekt des ganzen Gebildes. Mit zunehmender Laufzeit nehmen auch die Assoziationen mit einem Computerspiel zu, denn unsere Helden kämpfen sich durch die einzelnen Waggons, wie der Gamer durch die Levelstruktur eines Spieles. Und jedes Level/jeder Waggon sieht anders aus und hält andere Gegner und Herausforderungen bereit.
Doch neben dem Offensichtlichen gibt es unter der Oberfläche des Filmes eine Menge zu entdecken. Der größte Reiz des Filmes besteht darin, dass er den Zuschauer mitten in eine Welt hineinwirft, die für die Menschen, die darin leben, seit Jahren funktioniert, für den Zuschauer aber so gar nicht durchsichtig erscheint. Man muss sich quasi erst einmal den Zugang zu dem Film erkämpfen. Und dieser gibt nur nach und nach seine Geheimnisse preis. Und mehr noch, er will gar nicht all seine Geheimnisse offenbaren. So werden im Verlauf des Filmes viele Fragen geklärt, die zu Beginn aufgeworfen worden, doch viele Punkte bleiben auch der eigenen Interpretation überlassen und werden manchem rein logisch an Filme herangehenden Zuschauer offensiv vor den Kopf stoßen.
Des Weiteren gefällt, dass Regisseur Bong Joon Ho bei seiner Interpretation der grundlegenden Geschichte kaum Kompromisse eingeht. Bedenkt man dann, dass der Film für koreanische Verhältnisse mit 40 Millionen Dollar ein wahres Vermögen kostete, in der Tschechoslowakei inszeniert und mit internationalen Geldgebern umgesetzt wurde, um letztendlich als eine Art Visitenkarte des Regisseurs für den Weltmarkt zu fungieren, ist die teilweise sehr sperrige filmische Umsetzung höchst verblüffend. Hier werden Figuren bis hin zur Karikatur verzerrt, mischen sich koreanisch- und englischsprachige Abschnitte, wird teilweise extrem overacted und setzt es Sequenzen wie jene in dem „Schulwaggon“, die an eine groteske Theateraufführung mit Gesang, überzogenem Gestus, wild grimassierenden Schauspielern, absurden Bilderwelten und schräger Musik erinnert. Doch keine Sorge, derart abgefahren ist „Snowpiercer“ nicht immer. Viel mehr ist auch dieser Film ein Beleg dafür, wie nah Südkorea dem Blockbusterentertainment Amerikas zu kommen vermag. Zumindest, was die Schauwerte angeht.
Hier gehören die ersten 60 Minuten des Filmes dem dystopischen Grundthema. Die Farbe Grau beherrscht die Szenerie. Man kann förmlich riechen, unter welchen Bedingungen die Armen des Zuges vor sich hin vegetieren. Die Kleidung gleicht zerrissenen Lumpen, die Unterkünfte bestehen aus leeren Ölfässern und die Habseligkeiten der Leute beschränken sich auf Kleinstgegenstände. Aufgrund der schieren Masse an Menschen herrscht in diesem Abschnitt auch eine bedrückende Enge vor, die sich aufs Gemüt des Zuschauers zu schlagen vermag. Dann startet der Aufstand und Bong Joon Ho übt sich in tadelloser Gewaltästhetik voll dynamischer Bilder, spritzender Blutfontänen und wilder Ideen. So zündet er nach 40 Minuten die längste Actionszene seines Filmes, die von einem wilden Hack and Slay Abschnitt über computergenerierte Spektakelbilder des dahin rasenden Zuges zu einem mit Restlichtkamera aufgenommenen Massaker an den Aufständischen mutiert.
Nach diesem langen Schmankerl für den Actionfan ändert sich die Optik des Filmes extrem: Die Heldenparty um Curtis dringt nun weiter gen Zugspitze vor und erschließt sich immer dekadenter werdende Waggonwelten. Da gibt es einen Saunawaggon, einen mit einer Badelandschaft, den Schulwaggon, einen Wasserbassin- waggon und einen, in dem ein wilder Rave steigt. Die optische Umsetzung passt sich dem an, wird farbiger, überdrehter, skurriler, nur die eigentliche Handlung, die bleibt bedrückend düster und findet ihren Höhepunkt in den beiden langen Dialogsequenzen vor dem großen Showdown. In diesen Szenen darf Chris Evans („Captain America 2: The Return of the First Avenger“) seine bislang beste schauspielerische Leistung überhaupt abrufen und wird „Snowpiercer“ mit einem Schlag so richtig schön komplex. Spätestens hier strampelt er sich dann auch beherzt von den großen Genrevorbildern frei und generiert mit Leichtigkeit einige nachhaltig in Erinnerung bleibende Momente.
Was bleibt ist eine intelligente, sehr spannend erzählte und letztlich wundervoll eigenwillige Zukunftsvision, die mit einem irren Tempo vorangetrieben wird und eine hervorragende Mischung aus storygetriebenen Sequenzen und coolen Actioneinlagen findet. Starke Darsteller, darunter Ed Harris („Pain & Gain“), John Hurt („Only Lovers Left Alive“), Jamie Bell („Nymphomaniac“), Song Kangho („The Host“) und Tilda Swinton („Moonrise Kingdom“), adeln neben Hauptdarsteller Chris Evans den Film mit tadellosen Leistungen. Das Setting des riesigen Zuges ist innovativ und überzeugt mit ausgefallenen Design- und Ausstattungsideen. Gleichzeitig wirft gerade auch der Zug einige wichtige Fragen auf, die allerdings nicht alle zur vollsten Zufriedenheit geklärt werden. Derartige „Lücken“, recht sperrige, für manchen sicher zu „asiatische“ Momente und der eine oder andere nicht ganz runde Effektshot wären als kleinere Mängelherde anzuführen. Doch davon abgesehen ist „Snowpiercer“ megastarkes, unterhaltsames, extrem flottes Genrekino für Bauch UND Hirn!
„Snowpiercer“ ist ab 3. April 2014 in den deutschen Kinos zu sehen, kommt von der MFA+ Filmdistribution und wurde mit einer FSK 16 Freigabe uncut durchgewunken.
In diesem Sinne:
freeman
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Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder/Label: MFA+ Filmdistribution__FSK Freigabe: ab 12__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Nein/Nein, ab 3. April 2014 im Kino |