Originaltitel: Across 110th Street__Herstellungsland: USA__Erscheinungsjahr: 1972__Regie: Barry Shear__Darsteller: Anthony Quinn, Yaphet Kotto, Anthony Franciosa, Richard Ward, Paul Benjamin, Antonio Fargas, Frank Adu, Frank Arno, Joseph Attles, Ed Bernard, Tina Beyer, Gerry Black, Samuel Blue Jr. u.a. |
Der Song „Across 110th Street“ feierte in den Opening Credits von Quentin Tarantinos „Jackie Brown“ (1997) nach einem Vierteljahrhundert sein virtuoses Comeback: Während Pam Grier mit steinerner Miene und einem Koffer voller Geld die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu überschreiten versuchte, übermalte Billy Womacks kräftiger Soul die mögliche Geräuschkulisse des Flughafens, der in der ersten langen Plansequenz des Films als Set diente. Alles, was man über den Kontext der Szene wissen musste, fand man in den Lyrics. Womack besang Jackie Browns Hintergrund so intim, dass man ihre momentanen Absichten auf ihrem Gesicht ablesen konnte. Dabei wurde das Stück eigentlich nicht für die Hommage geschrieben, sondern für das Original, einen an authentischen Schauplätzen gedrehten, knallharten New Yorker Crime-Thriller aus der Hochphase des schwarzen Kinos.
In „Straße zum Jenseits“ streift die Kamera aus Hubschrauber- und Drive-By-Perspektive die 110te zwischen Harlem und Central Park entlang, während Womack die später zum Klassiker gereiften Zeilen zum allerersten Mal singt. Er beschreibt in ihnen, was sich in den Vierteln nördlich und südlich der Straße abspielt. Passend dazu inszeniert der gebürtige New Yorker Regisseur Barry Shear seine Geburtsstadt völlig unromantisch als absterbenden Organismus. Manchmal brennt ihr das wenig schmeichelhafte, grelle Licht des New-Hollywood-Realismus von „French Connection“ ein Loch in die Skyline, dann wird sie in das anonyme Dunkel der omnipräsenten Noir-Bezüge gehüllt, unter dessen Mantel die Banden um die Vorherrschaft über ihr Viertel kämpfen. Immer mittendrin befindet sich Shears Kameramann Jack Priestley, hauptsächlich ein Mann des Fernsehens, der in den 60ern unter anderem in den TV-Serien „Gnadenlose Stadt“, „East Side/West Side“ und „For the People“ eine Menge Gelegenheit hatte, sich mit dem schwierigen Drehpartner New York vertraut zu machen. Nun stromert er mit seiner mobilen Arriflex-Kamera, die ihm Produzent Fouad Said beschaffte, durch die Trümmer der verwahrlosten Häuserblocks, die man im Grunde nur noch betreten würde, um vor dem Auge des Gesetzes abgeschirmt krumme Dinger zu drehen… oder eben, um die krummen Dinger auf Film zu bannen.
Frei nach dem Titelsong dreht sich von der ersten Minute an alles um das Überschreiten von Grenzen und Revieren. Bereits beim einleitenden Raub werden diesbezüglich sämtliche Register gezogen, stürmen doch zwei Kriminelle in Polizeiuniform mitten in eine Geldübergabe, als einer der Kriminellen mit der Maschinenpistole sämtliche Personen im Raum über den Haufen schießt. Ihr Fluchtfahrer fügt dem besagten Haufen zur Krönung auf der Flucht noch zwei richtige Cops hinzu, die dummerweise zur falschen Zeit auf der falschen Straßenseite stehen. Zurück bleiben Reifenspuren auf dem Asphalt, durchlöcherte Körper und eine Menge Kunstblut. Viel Deutungsspielraum zur Interpretation der Lage bleibt da nicht; Shear präferiert die Handschrift der alten James-Cagney-Schule und zeichnet somit eine von Pulp und Exploitation geprägte Ausgangssituation, mit der die betroffenen Gangster auf der einen Seite und die Ermittler auf der anderen Seite ihrerseits zu radikalen Maßnahmen gezwungen sind. Es ist der Startschuss für eine blutgetränkte, durch und durch fatalistische Erzählung tief aus den Eingeweiden der Stadt, die wohl für die meisten Beteiligten kein Happy End auf Lager hat…
Wie merkwürdig muss es da klingen, dass ursprünglich klassische Old-Hollywood-Stars wie John Wayne, Kirk Douglas oder Burt Lancaster für die Rolle des weißen Cops in Betracht gezogen wurden und Sidney Poitier für die des schwarzen Cops. Das Doppel Anthony Quinn (“Revenge – Eine gefährliche Affäre“) als italienischstämmiger Querulant Cpt. Mattelli und Yaphet Kotto (“Running Man“) als ehrgeiziger Fallleiter Pope mag zwar in der Konstellation der Paarung Poitier / Steiger aus „In der Hitze der Nacht“ ähneln, die beiden Hauptdarsteller bringen jedoch etwas Raues auf die Leinwand, das dem oscarprämierten Rassismusdrama von 1967 in Sachen „Street Cred“ den Rang abläuft. Für die reißerische Linie, die von der Regie gefahren wird, sind die schauspielerischen Leistungen oft erschreckend gut, gerade auf den wichtigsten Positionen. Quinn und Kotto lassen sich von der klischeebehafteten Anlage ihrer Figuren nicht aufhalten und füllen sie mit grimmigen, bei Quinn bisweilen auch ins Zynische gleitenden Eigenschaften, die jede Kollision der Sturköpfe zu einem Erlebnis werden lassen. Rassismus und Verderbnis schimmern latent, aber allgegenwärtig durch die nicht allzu herzlichen Dialoge. Selbst Kotto strahlt trotz seiner eher defensiv geschriebenen Rolle durchgehend eine offen präsentierte Angriffslust aus, die nichts mit den passiv-aggressiven Handausrutschern eines Sidney Poitier gemein hat. Bei den Nebendarstellern wird es noch etwas schriller, etwa durch einen Antonio Fargas (“Ghettobusters“), der den tragischen Trottel einmal mehr zielsicher ins für ihn vorgesehene Schicksal steuert, oder auch durch einen Anthony Franciosa, dem als Mafiaboss in mindestens einer Szene im Nicolas-Cage-Stil alle Pferde durchgehen.
Schaut in den Trailer
httpv://www.youtube.com/watch?v=coh27q7HBDY&t=1s
Der Seriosität mag dieser Hang zum Expressionismus schaden, dem Unterhaltungswert keineswegs. Im Segelwind der sich frisch aufbäumenden Blaxploitation-Welle nimmt sich „Straße zum Jenseits“ alle Freiheiten, die er benötigt, ohne jedoch etwas auf die augenzwinkernde Linie einer Black-Power-Überstilisierung wie „Shaft“ oder „Slaughter“ abzubiegen. Im Erbgut stehen eben in diesem Fall auch Police-Procedural- und Detektivfilme der 30er bis 40er Jahre; wenn man die Polizisten in ihren dunklen Uniformen über das Geröll der Hinterhöfe Harlems klettern sieht, glaubt man einen Film zu sehen, der wesentlich früher als in den 70er Jahren entstanden ist. Mit Coppolas „Der Pate“, der im gleichen Jahr erschien, werden bestimmte Themen geteilt sowie der Umfang des Erzählrahmens, mit dem ein Jahr später gestarteten Scorsese-Gangsterfilm-Debüt „Hexenkessel“ wiederum verbindet die unvermittelte Inszenierung und die von Drohgebärden durchsetzten Interaktionen der Figuren, die das Milieu wie einen Raubtierkäfig wirken lassen.
Allzu viele auflockernde Actionsequenzen, wie einige San-Francisco-Streifen aus jener Zeit sie zu bieten hatten, sind da nicht einmal notwendig, denn die kernigen Figuren und die Überschneidungen von Schwarz und Weiß sowie Gut und Böse genügen dem Drehbuch bereits, um den Zuschauer an den Bildschirm zu nageln. Allenfalls im Mittelteil schleicht sich der ein oder andere Hänger ein, das dramatische Finale mit einer Flucht über die Dächer des Viertels entschädigt allerdings für etwaige stockende Momente und der finale Freeze Frame sorgt für einen fulminanten Schlusspunkt, der letztlich ein flaues Gefühl in der Magengegend hinterlässt.
Die zeitgenössische Kritik tendierte dazu, dieses dreckige New Yorker Portrait nicht allzu ernst zu nehmen, sei es doch in der Wahl seiner Mittel zu brachial und im Ausdruck zu schrill. Seine Qualitäten sollten allerdings nicht unterschätzt werden, denn als Grenzgänger zwischen dem Thrill eines temporeichen Blaxploitation-Films und dem Nihilismus eines düsteren Gangsterdramas trägt „Straße zum Jenseits“ gerade als düsteres Zeitdokument eine Menge Wert in sich.
Informationen zur Veröffentlichung von “Straße zum Jenseits”
Black Cinema Collection #3
Wir sahen bereits Jim Brown als Slaughter den Actionhelden markieren. Wir sahen Sidney Poitier als Virgil Tibbs in seiner Heimatstadt für Recht und Ordnung sorgen. In der dritten Ausgabe der „Black Cinema Collection“ von Wicked Vision geht es nun in die dunkelsten Ecken New Yorks, wo man sich niemals freiwillig alleine herumtreiben würde… und der Pappschuber, der mit der ersten Ausgabe der Reihe geliefert wurde, füllt sich langsam mit einer schillernden Bandbreite dessen, was man unter dem allgemeinen Sammelbegriff des „schwarzen Kinos“ verstehen kann.
Wie viele MGM-Titel hat es auch „Strasse zum Jenseits“ in Deutschland in den 00er Jahren zumindest auf DVD geschafft. 2005 erschien der Silberling, der zwar keine Extras, aber immerhin diverse Ton- und Untertitelspuren zu bieten hatte. 16 weitere Jahre sollte es also dauern, bis der Sprung zur Blu-ray gelingen würde – und zur DVD-Zweitauflage, denn schließlich handelt es sich wieder um eine Dual-Format-Ausgabe, bei der beide Medien mit identischem Inhalt vereint sind.
Verpackung und Artwork
Als Verpackung dient wie üblich ein Scanavo-Case, das beweist, dass sich auch eine Plastikverpackung zum Sammlerobjekt eignen kann. Der störende Kopf mit dem Blu-ray-Logo fällt bei dieser Verpackungsform weg, so dass man den entstandenen Platz sinnvoller für das Artwork nutzen kann. In diesem Fall wurde eines der klassischen Filmplakate gewählt, eine Mischung aus Fotografie und Zeichnung, vielleicht auch Überzeichnung von Fotomaterial. Die Hauptdarsteller Anthony Quinn und Yaphet Kotto stehen schussbereit dem Betrachter zugewandt und zielen nach außen an ihm vorbei. Interessanterweise stimmt diesmal sogar die Zuordnung der Darstellernamen über ihren Köpfen, die ja oftmals aus rechtlichen Gründen nicht der Position der Gesichter entspricht. Zwischen ihnen erhebt sich ein Straßenschild, das darauf hinweist, dass sich die Herrschaften wohl gerade an der Ecke 110te bei Harlem befinden. Unten rechts finden wir dann noch Antonio Fargas und Anthony Franciosa, unten links die Wurzel allen Übels, einen Riesenhaufen Geld. Der mattblaue Hintergrund mit dem weißen Kreis hebt den Stil der 70er Jahre deutlich hervor. Mit einem FSK-Flatschen muss man sich glücklicherweise nicht herumschlagen; so bleibt auf der Innenseite anstatt eines Wendecovers die Möglichkeit für ein zweites Motiv. Hier hat man offenbar das Promo-Material zum Film durchforstet und sich für eine Szene in Schwarzweiß entschieden, in der Quinn und Kotto vor einem „One Way“-Zeichen stehen und ihre Waffe auf ein Ziel im Off richten. Blu-ray und DVD sind wie immer sehr sicher in einer Vorrichtung auf der rechten Seite untergebracht, die clever gelöst ist und nach dem klassischen Flügel für die zweite Disc wohl die schönste Methode ist, zwei Discs in einer Hülle unterzubringen.
Das Booklet
Links eingeklammert ist ein 24-seitiges Booklet, das natürlich wieder dem Design und Layout der gesamten Reihe folgt und ein schwarzweißes Motiv bietet, auf dessen unterem Drittel der Filmtitel in verschiedenen Transparenzstufen auf mehreren Zeilen in schräger Anordnung abgedruckt ist. Das Motiv wurde in der Vergangenheit auch bereits als US-Poster verwendet: Die Fischauge-Kamera zeigt die rivalisierenden Gangs beim Geschäft an einem prall mit Geldbündeln gefüllten Tisch. Im Inneren macht sich Thorsten Hanisch über 15 Seiten verteilt „Notizen zu Straße zum Jenseits“. Um einige bereits mehrfach ausgestreute Informationen kommen wir dabei nicht herum – „Sweet Sweetbacks Lied“ und „Shaft“ sind die beiden Referenzen, die grundsätzlich immer aus dem Hut gezogen werden, wenn es ansatzweise um Blaxploitation geht, so auch wieder hier. Davon ausgehend werden die politischen Absichten des Films im Spiegel der Bürgerrechtsbewegungen erläutert, außerdem geht Hanisch noch einmal sehr detailliert auf die Produktionsbedingungen ein, insbesondere den schwierigen Dreh an Originalschauplätzen und die Bedeutung der neuen Arriflex-Kamera, die Produzent Fouad Said besorgte. Die obere Hälfte der Seiten ist jeweils mit einem Screenshot in Schwarzweiß unterlegt. Die letzten fünf Seiten werden dann noch mit Aushangfotos und dem US-Kinoplakat (beides in Farbe) geschmückt.
Bild und Ton
“Straße zum Jenseits” kommt im originalen 1,85:1 Bildformat in 1080p. Nicht immer überzeugt vor allem der Kontrast; auch dunkle Flächen wirken oft wie von einem leichten Schleier belegt, was vor allem bei den vielen Tag-Nacht-Wechseln auffällt. Ansonsten hat das Bild den typischen grobkörnigen New-Hollywood-Stil: Fast alles wurde eben bei natürlicher Lichtsetzung direkt vor Ort gedreht, was der Atmosphäre des Films nur zuträglich ist und ihn letztlich als Zeitdokument im Wert steigen lässt. Beim Ton bleibt die Auswahl zwischen deutschem und englischen Zweikanal-Monoton in DTS-HD Master Audio. Die deutsche Fassung kann manchmal etwas muffig wirken, der Originalton ist da nochmal eine Spur klarer; allzu viel Dynamik sollte man sich aber selbst bei den Schusswaffengefechten in beiden Fällen eher nicht erwarten. Auch bei den Untertiteloptionen hat man die Wahl zwischen Deutsch und Englisch, obwohl auf dem Backcover nur deutsche Subs angegeben sind.
Der Audiokommentar
Bei der dritten Tonspur handelt es sich um den obligatorischen Audiokommentar mit Dr. Gerd Naumann und Christopher Klaese. Erstaunlich nah bleiben sie diesmal beim Hauptfilm, wenn sie auch eher selten auf konkrete Szenen eingehen. Doch der Versuchung, eine allgemeine Abhandlung über Blaxploitation abzuliefern, wird vehement widerstanden. „Strasse zum Jenseits“ bleibt jederzeit Thema Nr. 1, was auch damit zusammenhängen mag, dass es sich um keinen waschechten Vertreter des Genres handelt, sondern eher um einen Hybriden unterschiedlicher Einflüsse, was eine Menge Diskussionspotenzial birgt. Außerdem scheinen sie den Film beide genug zu mögen, um ausführlich auf ihn einzugehen. So werden gerade die Themen, die Hanisch in seinem Booklet aufgreift, noch einmal vertieft und mit zusätzlichen Belegen unterfüttert.
Die Extras
Bei den Video-Extras ist einmal mehr Dr. Andreas Rauscher federführend, auch wenn sein Auftritt in der Featurette „The Sound of Blaxploitation“ diesmal von eher kurzer Dauer ist. In rund 13 Minuten spezialisiert er sich diesmal auf das Thema Soundtrack, was sich dank Billy Womacks Titelsong in diesem Fall natürlich anbietet. Rauscher beobachtet, dass die Soundtracks dieser Filme oft sogar den Job des Storytellers übernehmen, ob nun durch den Textinhalt oder auch durch die rhythmische Anpassung des Bildes an die Vorgaben des Songs. Ein sehr interessanter Themenbereich, der aber gerne noch ausführlicher hätte beleuchtet werden dürfen – man wittert da Potenzial für eine komplette Dokumentation in Spielfilmlänge. Mit dem Originaltrailer und einer Bildergalerie mit Werbe- und Vertriebsmaterial wird die kleine, aber erlesene Auswahl an Bonusmaterial beendet. Ein Film, der nie die Aufmerksamkeit bekam, die er verdient hätte, ist somit endlich gebührend gewürdigt.
Bildergalerie
Die Black Cinema Collection bei den Actionfreunden:
01: Slaughter [1972]
02: Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs [1970]
03: Strasse zum Jenseits [1972]
04: Ghetto Busters [1988]
05: Die Organisation [1971]
06: Foxy Brown [1974]
07: Car Wash [1976]
08: Coffy [1973]
09: Visum für die Hölle [1972]
10: Black Caesar – Der Pate von Harlem [1973]
11: Cotton Comes to Harlem [1970]
12: Riot – Ausbruch der Verdammten [1969]
13: Hit! [1973]
14: Vampira [1974]
15: Sugar Hill [1974]
16: Hell Up In Harlem [1973]
17: Friday Foster [1975]
18: In the Heat of the Night [1967]
19: Cooley High [1975]
20: Hammer [1972]
Sascha Ganser (Vince)
Was hältst du von dem Film?
Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder/Label: Wicked Vision__FSK Freigabe: FSK16__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Ja / Ja |