Originaltitel: The Painted Bird__Herstellungsland: Slowakei / Tschechische Republik / Ukraine__Erscheinungsjahr: 2019__Regie: Václav Marhoul__Darsteller: Petr Kotlár, Stellan Skarsgård, Harvey Keitel, Barry Pepper, Julian Sands, Udo Kier, Tim Kalkhof, Aleksey Kravchenko, Jitka Cvancarová, Petr Vanek, Pavel Kríz, Dominik Weber, Lech Dyblik u.a. |
Film ist ein Medium, von dem man im Allgemeinen erwartet, dass es einen weit über die Wirklichkeit hinausträgt. Nur beim Kriegsfilm gelten, wie eben auch beim Krieg selbst, Ausnahmezustände. Es ist gerade sein Bezug zur Realität, der ihn wie einen Stein zu Boden fallen lässt. Wer einen Vertreter seiner Gattung lobend hervorheben möchte, der wird pauschal darauf hinweisen, wie realistisch und ungeschönt das hässliche Wesen des Kriegs darin porträtiert wird. Dies scheinen obligatorische Kriterien zu sein, deren Ab- oder Anwesenheit bereits über die Qualität des Werkes entscheiden kann. Zumindest gilt das, solange man den Kriegsfilm als Auseinandersetzung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts definiert, solange also Historienfilme und Allegorien aus den Bereichen Fantasy und Science Fiction ausgeklammert werden. Filme über den Zweiten Weltkrieg fallen in diese Definition. Sie bedienen ein Genre, dessen Bewertungsmaßstäbe offenbar einem klar ausgeprägten Dogmatismus unterworfen sind.
Das Kriegsdrama „The Painted Bird“ ist gewissermaßen ein Sonderfall, denn es basiert auf dem Roman eines Autoren, dem man nachsagt, dass er es mit der Wirklichkeit nicht so genau genommen habe. Ursprünglich vermarktet als autobiografische Erzählung, die angeblich auf die Kindheitserinnerungen des Autoren zurückgingen, räumte Jerzy Kosiński später ein, dass es sich bei seinen episodischen Erzählungen aus der Perspektive eines heimatlosen Jungen um reine Fiktion handle. Selbst mit diesem Eingeständnis waren Kosińskis Kritiker allerdings noch nicht zufriedengestellt, sie warfen ihm gar vor, sich nicht bei der eigenen Vorstellungskraft, sondern bei international unbekannten polnischen Autoren bedient zu haben, um seine Werke zu verfassen.
Für die späte Filmadaption, entstanden fast drei Jahrzehnte nach dem Tod des Schriftstellers, kann das nur bedeuten, dass sie nicht nach den üblichen Kriterien bewertet werden kann, auch wenn man oberflächlich betrachtet durchaus mit ihnen argumentieren könnte. Denn ungeschönt, hässlich, ja schonungslos und furchtlos, das sind alles Attribute, die der slowakisch-tschechisch-ukrainischen Koproduktion von der ersten Filmminute an auf die Kameralinse gepinselt stehen. Mit dem Realismus hingegen, da ist es so eine Sache.
Aufgegliedert sind die fast drei Stunden Laufzeit von „The Painted Bird“ durch etliche schwarze Kapitel-Tafeln, jeweils nach den aktuellen Bezugspersonen des namenlosen jüdischen Streuners in der Hauptrolle benannt, gespielt vom damals neunjährigen Petr Kotlár. Man könnte bei den Kapiteln beinahe von einer Serie von Kurzfilmen sprechen, die jeweils durch ihre Hauptfigur und den übergeordneten Horror miteinander verbunden sind, aber unterschiedliche, aufeinander aufbauende Aspekte derselben Welt dokumentieren. Wie im Roman bleiben die Verbindungswege zwischen den einzelnen Stationen unbeschrieben, das Schicksal treibt den Jungen quasi unmittelbar von einer Extremsituation zur nächsten, so dass schon die Erzählstruktur die Abwesenheit von Geborgenheit, Kontinuität und Stabilität unterstreicht.
Die eigentlichen Kriegsaktivitäten, mit ihnen der Bezug zum historischen Zeitstrahl, befinden sich zu jenem Zeitpunkt des Films noch völlig außerhalb des Wahrnehmungsfeldes von Auge und Ohr. Keine Soldaten, keine Schüsse, keine Propaganda, nicht einmal ein Echo am Horizont. Es sind vielmehr die im Limbus vegetierenden Menschen und Institutionen in den Dörfern, die man als indirektes Resultat eines auf dem Kontinent wütenden Krieges begreift. Als der Junge im ersten Kapitel mit seiner Pflegemutter den Alltag durch allerlei Haushaltstätigkeiten bestreitet, da könnte das Szenario einer beliebigen, nicht näher definierten Vergangenheit auf einem Landgut irgendwo in Europa entstammen. Das Kapitel fühlt sich beinahe an wie die geraffte Kurzfassung von Béla Tarrs ausschweifender Alltagsbeobachtung „Das Turiner Pferd“ (2011), die eigentlich im Jahrhundert vor „The Painted Bird“ angesiedelt ist und dennoch einem sehr ähnlichen Ablauf folgt. Nur dass es diesmal eben der Anfang einer größeren Geschichte ist.
Für einen vermeintlich autobiografischen Stoff meidet die Erzählung also auch in der filmischen Form bereits auffällig deutlich etwaige Eckdaten und Indizien für eine zeitliche und örtliche Eingrenzung. Obwohl die kargen Schwarzweißbilder durchaus etwas Einfaches ausdrücken, das für eine gewisse Auslegung von Realismus stehen könnte, so trägt die kindliche Fantasie ihre Hauptfigur doch immer wieder vom Regen in die Traufe, den Szenenwechsel immer dann ausführend, wenn es in der vorherigen Lage zu unerträglich wird – ungefähr so, wie man aus einem Traum aufwacht, wenn man darin kurz vor dem Tod steht, nur um festzustellen, dass der neue Wachzustand lediglich ein noch schlimmerer Traum ist.
Der narrative Ansatz, ein Kind auf eigene Faust das unwirtliche Osteuropa zur Zeit deutscher Besatzungen durchstreifen zu lassen, lässt automatisch an „Komm und sieh“ (1985) denken, zumal in beiden Fällen veranschaulicht wird, wie die Unschuld eines jungen Menschen durch die Gräuel seiner außer Kontrolle geratenen Umwelt unwiederbringlich zerbricht. Während der Weißrusse Fljora in Elem Klimows Antikriegs-Epos jedoch wie ein passiver Ball quer über die verbrannte Erde seines Landes getreten wird und dabei kaum anders kann als mit permanentem Entsetzen auf eine Welt zu reagieren, deren Regelwerk außer Kraft gesetzt ist, so dass er am Ende als desillusioniertes, um Jahre gealtertes Wrack zurückbleibt, wird der Protagonist aus „The Painted Bird“ mit einer neuen, bestialischen Normalität konfrontiert, die ihn schließlich anstelle seiner leiblichen Eltern zu erziehen beginnt. Ihre teuflische Dramaturgie bezieht die insgesamt recht linear aufgebaute Handlung aus der Frage, wann und wie der anfangs so sensibel gezeichnete Junge wohl durch die Erfahrungen mit einer Umwelt gebrochen wird, die ihm keinerlei Gnade zuteil werden lässt.
Und Regisseur Václav Marhoul scheut sich nicht, die bereits im Roman vorzufindende Radikalität in einem toxischen Gemisch aus Gewalt, Sex und Religiosität aufzulösen, das seinen Ursprung in einer vorindustriellen Gesellschaft bäuerlicher Autarkie hat. Es herrscht anstatt Aufklärung wieder die Selbstjustiz des einfachen Landvolks, dessen Dörfer mit einem mythologischen Schleier von den technologischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts abgeschirmt zu sein scheinen. Anstelle von Empathie oder sozialem Pflichtgefühl bestimmen Aggression und Aberglauben über den Fortgang der Ereignisse. Marhoul jedenfalls fackelt nicht lange, um unzählige Momente herzzerbrechender Grausamkeit aufzubahren, begonnen damit, dass das Haustier der Hauptfigur, ein Frettchen, gleich in der ersten Szene vor den Augen seines Besitzers verbrannt wird.*
Es ist nicht nur der frühe Verlust der zuvor deklarierten Unschuld, sondern der Auftakt einer Abfolge von Begegnungen zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Tier, was auf eine besondere symbolische Funktion der Tierwelt im Film schließen lässt, in der sich die Versäumnisse und die Sünden des Menschen spiegeln. Ein Pferd mit gebrochenem Bein, das als Nutztier keine Funktion mehr erfüllt, kopulierende Katzen, die ihren Besitzer auf unangenehme Weise an die animalische Natur seiner eigenen Art erinnern, eine Ziege, unter deren Bauch sich eine pädophile Nymphomanin räkelt, um ihren jungen Liebhaber mit teuflischem Grinsen zu verhöhnen und nicht zuletzt die gellende Metapher des Buch- und Filmtitels um den bemalten Vogel, der mit weißer Farbe auf den Flügeln zu seinen Artgenossen entlassen und dort von ihnen als Eindringling zu Tode gepickt wird. Das Szenenbild ist oft gefüllt mit handgemachten Käfigen, die einen beachtlichen Teil der inhaltlichen Lesart des Films ins Übertragene verlagern, in jenen Interpretationsbereich also, der sich dem Tatsächlichen, dem Faktischen, dem Unvermittelten, dem Non-Medialen entzieht.
In weiteren Episoden werden immer weitere obszöne Facetten der menschlichen Natur ausgestellt, bis aus dem der Form nach authentischen Kriegsdrama ein surrealer Alptraum von Buñuel’scher Ausweglosigkeit entstanden ist, bei dem sich bisweilen Bilder von unvorstellbarem Exzess ergeben, die die Frage nach der neuen Definition von Normalität stellen. Inmitten dessen immer noch der Junge, der als Beobachter dieser Bilder permanent zugegen ist und Werte aus ihnen zieht, die sich wiederum auf seine Peiniger reflektieren, welche sich ebenso wie seine wenigen Beschützer aus den unterschiedlichsten, oft überraschenden Bereichen rekrutieren. Gerade hier ist „The Painted Bird“ besonders schmerzhaft, aber auch ausdrucksstark, zumal die Gewalt nicht etwa von Vertretern des Bösen ausgeübt wird, sondern von leeren Hülsen, deren Seelen sich längst von den motorischen Handlungen gelöst haben.
Eine erstaunliche Garde international bekannter Gesichter ist dazu auserkoren, die schwermütigen Erzählungen zu tragen, von Stellan Skarsgård über Barry Pepper bis hin zu Julian Sands, Harvey Keitel und Udo Kier. Sie alle arbeiten aufopferungsvoll in ihren Rollen, die vermutlich jeweils nur wenige Drehtage beansprucht haben dürften, werden aber bisweilen von den unbekannten Gesichtern im Cast noch ausgestochen. Nicht zuletzt sicherlich von Hauptdarsteller Petr Kotlár, einem ganz normalen Kind ohne jede Schauspielerfahrung, das dem Regisseur in Prag über den Weg lief, wo er an seinen Drehbuchentwürfen arbeitete. Die komplexe Charakterentwicklung seiner Figur meistert der Junge auf eine intuitive Art, die mutmaßen lässt, dass er selbst ebenfalls erwachsen wurde, als er zwischen 2017 und 2018 der Mittelpunkt aufreibender Dreharbeiten war, die ihm Kräfte abverlangt haben müssen, wie sie einem Neunjährigen selten abverlangt werden.
„The Painted Bird“ mag in seinem symbolischen Ausdruck ungewöhnlich bildhaft sein für ein Kriegsdrama und vielleicht etwas ungestüm und radikal in der Wahl seiner Mittel, um dem Zuschauer einen Eindruck des Grauens einer Wirklichkeit zu vermitteln, in der ein Krieg die Menschen wieder in Tiere verwandelt hat, die rasend vor Irrationalität aufeinander losgehen. Aber Fiktion oder nicht, es ändert nichts an der ungeheuren Intensität, mit der diese Tour de Force über ihre gesamte Laufzeit fesselt.
*Ein Producer’s Statement im Abspann und Interview-Aussagen des Regisseurs bezeugen erfreulicherweise, dass beim Dreh weder in dieser Szene noch in späteren Szenen echte Tiere zu Schaden gekommen sind; ferner wurden sämtliche Stunts und andere brisante Szenen des Jungen von einem erwachsenen Double nachgestellt.
Informationen zur Veröffentlichung von “The Painted Bird”
Drop Out #041
Dieser Tage, mit einem wütenden Krieg in Europa, ist der Bezug zu filmischen Werken über den Krieg sicherlich wieder ein anderer. Die Nachfrage nach leichter Unterhaltung in Form von Eskapismus dürfte in solchen Zeiten boomen, was jedoch nichts daran ändert, dass sich Kriegsfilme ihre Relevanz bewahren, ja als Mahnmal sogar noch relevanter werden. Bildstörung hatte sich zuletzt intensiv ganz speziell mit der Geschichte osteuropäischer Kriege befasst und die sowjetischen Meisterwerke „Komm und sieh“ von Elem Klimow und „Krieg und Frieden“ von Sergei Bondartschuk in aufwändigen Editionen veröffentlicht.
„The Painted Bird“ ist nun eine weitere osteuropäische Literaturverfilmung von weitaus jüngerem Datum, gedreht zwischen 2017 und 2018 in mehreren Ländern – in einer Form, wie kaum mehr Filme gedreht werden, womit nur zweitrangig die Entscheidung gemeint ist, in Schwarzweiß zu drehen. Filme wie dieser erblicken nur alle Jubeljahre das Licht der Leinwand. Um so schöner, dass es dieser drei Jahre nach seiner Fertigstellungnun endlich zu uns geschafft hat.
Es handelt sich inzwischen um den 41. Drop Out der erlesenen Veröffentlichungsreihe, die vor 13 Jahren eröffnet wurde, im Schnitt also etwas mehr als drei Filme pro Jahr hervorgebracht hat. Der 40. Drop Out, das opulente Set zu „Krieg und Frieden“, dürfte damals viel Blut und Schweiß gekostet haben. Aber es ist nun bereits seit einem halben Jahr auf dem Markt, also wurde es mal wieder Zeit für Nachschub mit dem bereits lange erwarteten, weil schon 2020 von Bildstörung angekündigten Drama, das im vergangenen September auch schon mit einem limitierten Kinostart ausgestattet wurde. Falls man diesen verpasst hat, kann man sich nun mit einer erneut ausgezeichneten Veröffentlichung trösten. Diese bekommt man wahlweise als Doppel-DVD oder als Set aus Blu-ray und DVD. Letzere ist Teil der nachfolgenden Besprechung.
Die Verpackung
Der abnehmbare Umschlag weist mit seinem roten FSK18-Logo nicht nur darauf hin, dass den Zuschauer hier ziemlich harter Tobak erwarten wird, er wirbt außerdem mit einigen der teilnehmenden Hollywood-Stars, von denen so viele mit dabei sind, dass sie es nicht einmal alle namentlich auf den Button geschafft haben. Ferner gibt es frische Tomaten von Rotten Tomatoes. Nimmt man den Umschlag ab, bekommt man das wunderschön gestaltete, dezent und geschmackvoll in Szene gesetzte Artwork ohne all diese Werbehinweise und Kategorisierungen auf einem stabilen Pappschuber, dessen schwarzer Rahmen am oberen und unteren Rand das Motiv noch einmal besonders dunkel wirken lassen. Es setzt sich zusammen aus einer frühen Szene im Film gegen Ende des ersten Kapitels, ferner dem Titelschriftzug, der passend zum Inhalt wie mit dem Pinsel aufgetragen scheint, sowie weiterhin das einzige farbige Element, die wappenartige Darstellung eines markierten Sperlings, der in einem symbolischen Gestrüpp aus Federn und dem Todessymbol des Totenschädels um sein Leben flattert – eine schöne Verbeugung vor dem Motiv der Erstauflage des Romans.
Weil das eigentliche Covermotiv auf dem Schuber abgebildet ist, darf sich die Gestaltung des Amaray Case mit einer Szene aus dem Film schmücken. Man hat dazu wieder ein Motiv ausgewählt, das dazu prädestiniert ist, das Front- und Backcover miteinander zu verbinden. So sieht man Hauptdarsteller Petr Kotlár in Embryonalhaltung im Stroh liegend auf der Vorderseite. Sein Arm ragt aus dem Bild heraus und führt zur Rückseite, wo Nebendarstellerin Júlia Vidrnákóvá in der gleichen Haltung spiegelverkehrt liegt. Der Innendruck zeigt eine Gruppe von Reitern auf einem Hügel vor einem Feld.
Das Booklet
Um dieses Motiv überhaupt zu sehen, muss man nicht nur die versetzt übereinander eingeklammerten Discs (eine Blu-ray mit dem Hauptfilm und eine DVD mit Extras) entnehmen, sondern auch das 24-seitige Booklet, dessen Covermotiv eine brillant mit Tiefenraum spielende Fotografie einer Szene aus dem ersten Kapitel aufwartet. Wiederum liegt Kotlár in Embryonalhaltung im vorderen Teil des Bildes, während seine Ziehmutter (Nina Šunevič) im Hintergrund das Feld beharkt. Auch das Motiv auf der Rückseite (Vidrnákóvá schneidet Kotlár die Haare) ist eine wunderschöne Fotografie, die bereits einen Vorgeschmack gibt auf die vorzügliche Kadrierung und Bildgestaltung im Film. Der Innenteil hat abgesehen von einigen weiteren, teils wirklich beeindruckenden Fotografien (der brennende Mann in der Eingangstür, das nackte Paar auf dem Pferd) zunächst ein Vorwort von Regisseur Václav Marhoul aus dem Oktober 2019 zu bieten, in dem er auf seine Beweggründe eingeht, den Film zu drehen, auf die Kapitelstruktur des Drehbuchs, gestalterische Entscheidungen und die Bezüge zum Roman und dessen Autoren. Der Hauptteil besteht dann aus einem Interview mit Marhoul. Darin geht er auf einige Details der Produktion ein, insbesondere die sehr schwierige Finanzierung, die sich über einen Zeitraum von vier Jahren erstreckte, sowie die riskante Besetzung der Hauptrolle mit einem völlig unbekannten Laien. Immer wieder spürt man zwischen den Fakten und technischen Details jedoch die Leidenschaft für den Stoff und den Wunsch, diesen Stoff in aller Tiefe zu erklären, von der Intention bis zur beabsichtigten Wirkung. Das Booklet endet schließlich mit Credits zur deutschen Synchronisation und Danksagungen für goEast, einem Wiesbadener Festival für den mittel- und osteuropäischen Film, dem man auch wieder auf der Bonus-Scheibe begegnen wird.
Bild und Ton
Doch zunächst zur Blu-ray. Abgesehen von einer kleinen Trailershow mit Titeln aus dem Programm von Bildstörung ist deren Speicherplatz voll und ganz dem fast dreistündigen Hauptfilm vorbehalten, der also in ganzer Pracht erstrahlen darf. Das aus künstlerischen Gründen in Schwarzweiß gedrehte 2,35:1-Bild strotzt nur so vor Details, die sich in dem feinen Filmkorn verbergen, ferner überzeugt es mit fein abgestuften Kontrasten. Gelegentlich wird ganz bewusst mit Überstrahlung gearbeitet, wenn der extrem helle Himmel mit gleißenden Strahlen die Konturen der Dorfränder überdeckt oder wenn die Halme des Weizenfelds sich zu einem Muster aus Lichtbündeln zusammenschließen. Kameramann Vladimír Smutný gelingt es dabei, jedem Kapitel eine eigene visuelle Signatur zu verleihen, manchmal offen und klar, manchmal dunkel und trostlos.
Bei den Audio-Einstellungen findet man keinen Audiokommentar, wohl aber zwei Tonspuren. Eine davon ist die deutsche Synchronisation, die extra für diesen Release in Auftrag gegeben wurde. Wie immer, wenn einige Schauspieler am Set Deutsch sprechen, wirkt die Kombination aus On-Set-Deutsch und synchronisiertem Deutsch ein wenig artifiziell, gleichwohl lassen sich die „Native-Passagen“ aufgrund akustischer Parameter und Lippensychronität immer leicht identifizieren. Nicht alle deutschen Darsteller am Set sprechen jedoch Deutsch; wer Udo Kier nicht in der nachsynchronisierten Version hören will, sondern mit einem vor der Kamera aufgeführten slawischen Akzent, der sollte zum Originalton schalten. Die darauf enthaltene Mischung unterschiedlicher osteuropäischer Sprachen wird vom Regisseur als „slawisches Esperanto“ bezeichnet und soll durch seine uneindeutige Zuordnung den Charakteristika der Vorlage entsprechen, die sich ebenso wenig darauf festlegen wollte, wann und wo genau die Handlung angesiedelt ist. In jedem Fall ist der Originalton naturgemäß das „echtere“ Erlebnis; deutsche Untertitel sind als Hilfestellung natürlich mit im Paket. Beide Spuren überzeugen aber auch abseits der Dialoge mit einer nuancierten Soundkulisse im 5.1-DTS-Mix. Zwar findet nicht viel Krieg auf dem Bildschirm statt, aber Wettereffekte, brennende Häuser, galoppierende Pferde und Stimmengewirr verteilen sich realistisch über die Kanäle.
Das Bonusmaterial ist in seinem Umfang massiv, in seiner Aufteilung aber angenehm übersichtlich. Letztlich haben es nur zwei Features auf die beigelegte DVD geschafft, von denen beide jedoch Spielfilmlänge aufweisen.
Dokumentation: Die elf Farben des Vogels
„Die elf Farben des Vogels“ ist eine zweistündige Dokumentation über die 100-tägigen Dreharbeiten des Films. Sie liest sich wie ein Produktionstagebuch, das aufwändig für ihre filmische Präsentation nachbearbeitet wurde. Der Aufbau folgt synchron den Kapiteln des Films, auf die im Titel mit den „elf Farben“ auch angespielt wird. Der schiere Umfang der Dreharbeiten sorgt dabei schon automatisch dafür, dass ein Gefühl wie bei einer Abenteuerreise vermittelt wird, von dem die Briefe des Reisenden verkünden, der, wenn auch von Heimweh geplagt, allerhand unglaublicher Dinge erlebt, bevor er in die behütete Heimat zurückkehrt. Auch wenn der insgesamt recht zurückhaltende Score in Schlüsselmomenten (etwa als klar wird, dass der Hauptdarsteller gefunden ist, oder als die Dreharbeiten beendet sind) vielleicht ein wenig zu dick aufträgt, die Bedeutsamkeit des Projektes für die Teilnehmer ist auf Anhieb spürbar.
Ein besonders raffinierter Twist ist dabei, dass der junge Hauptdarsteller, der im Film selbst praktisch keine Dialogzeile sprechen durfte, nun als Off-Erzähler seiner eigenen Geschichte auftritt. Unüberhörbar wurde der gelesene Text natürlich von einem erwachsenen Mitglied der Produktion verfasst. Dem durch den Dreh bereits schwer gebeutelten Petr Kotlár wollte man sicherlich nicht noch eine Hausaufgabe in Form eines Aufsatzes zumuten, ferner geht der Kommentar mit Schnitt und Regie natürlich Hand in Hand. Dadurch wirkt der Ablauf sicherlich etwas geskriptet, aber die Diskrepanz zwischen Sprecher und Gesprochenem ist so offensichtlich, dass man sie umgehend als Kunstgriff akzeptiert.
Inhaltlich bekommt man reichhaltige Einblicke in die Vor-Ort-Produktion und erfährt schon aufgrund des reinen Bildmaterials, das anders als der Hauptfilm hier in Farbe daherkommt, wie bestimmte Szenen realisiert wurden. Wer sich noch einmal mit eigenen Augen vergewissern will, dass keine Tiere zu Schaden kamen, dem sei ebenfalls ein Blick empfohlen, denn viele drastisch wirkende Effekte werden hier mit einfachen Tricks aufgelöst (wenngleich einer Kuh offenbar tatsächlich der Hintern angekokelt wurde, nicht aber ohne ihn vorher mit schützendem Gel einzureiben). Lediglich das Humpeln des Pferdes bleibt ein ungeklärtes Rätsel, auch wenn man sieht, dass der offene Bruch lediglich aufgetragenes Make-Up war.
Ferner darf man Bekanntschaft machen mit Kotlárs Stunt Double, man bekommt mehr von den Hollywood-Stars am Set zu Gesicht und erfährt so manches über die Qualität des Caterings (besonders wichtig, versteht sich). Wer auf Reibungen hofft, könnte ein paar handfeste Konflikte vermissen, insbesondere die bekannteren Darsteller erweisen sich als wahre PR-Profis und haben eigentlich nichts als Bewunderung und Respekt für das Projekt und seine Beteiligung übrig. Etwas lauter wird ausgerechnet der Regisseur selbst in zwei, drei Momenten, in denen der Ablauf eines Takes nicht seinen Vorstellungen entspricht. Das scheinen allerdings Begleiterscheinungen seiner recht heißblütigen und spontanen Natur zu sein, die in den meisten Fällen nicht etwa zu Wutausbrüchen führt, sondern zum Austausch von Herzlichkeiten. So führte Marhoul bei allen männlichen Darstellern nach ihren letzten Szenen ein Ritual ein, indem er sie mit dem Armen umfasste und lachend in die Luft hob – eine Aussicht, auf die vor allem Harvey Keitel höchst amüsant reagiert, indem er die Beine unter seinem Priestergewand in die Hand nimmt und flüchtet.
Dem neunjährigen Kotlár jedenfalls sieht man die Strapazen in vielen Gelegenheiten an, wenn er als am meisten geforderter Darsteller am Set immer und immer wieder unangenehme Situationen über sich ergehen lassen muss und dabei nicht selten auch manche Träne verdrückt. Die gesamte Crew reagiert vorbildlich auf die schwierige Situation für den Jungen, indem sie immer wieder Späße mit ihm macht, mit ihm spielt, sich um ihn kümmert und ihm vor allem fortlaufend klar macht, dass alles nur Fiktion ist – Kinderpsychologie, ausgeführt durch ein familiär auftretendes Patchwork-Ensemble mit dem Herz am rechten Fleck.
Da in „Die elf Farben des Vogels“ lediglich Cast & Crew auftreten, sich also fast alles um die Entstehung des Films dreht, sind keine tiefgehenden Interpretationen von Kritikern oder anderen externen Gruppierungen zu erwarten, zumal es sich um einen noch sehr neuen Film handelt, der noch nicht in das kollektive Bewusstsein der Kinolandschaft einsickern konnte; dennoch gibt die Dokumentation einen nicht allzu oft gebotenen Einblick in die Abläufe einer aufwändigen europäischen Kinoproduktion unter Einbezug wahrhaftig aller Beteiligter, von den Schauspielern bis zum Kabelträger. Im übergeordneten Sinn bietet sie sogar mehr als das, einen zutiefst unschuldigen Blick nämlich auf ein hochprofessionelles, von A bis Z durchgeplantes Gewerbe: Petr Kotlár blickt mit großen Augen auf einen gewichtigen Abschnitt seines jugen Lebens, die Entstehung von “The Painted Bird”.
Zu Gast bei goEast
Das zweite Feature stammt vom „goEast“ Filmfestival aus Wiesbaden und besteht aus einer 90-minütigen Zoom-Sitzung, bei der Regisseur Václav Marhoul weniger im Interview- denn vielmehr im Monolog-Stil über seinen Film und dessen Intension referiert. Nachdem Festival-Leiterin Heleen Gerritsen ihren Gast sowie das Konzept der Sendung in einer Einführung vorgestellt hat, rückt Marhoul per Computerkamera ins Bild und beginnt seine Ausführungen, gelegentlich unterbrochen von Ausschnitten aus „The Painted Bird“. Das Feature wurde zu Beginn der Pandemiezeit produziert, die Spuren von Corona legen sich also auch hier nieder, unter anderem in dem Umstand, dass der Film damals leider nur digital gestreamt und nicht im Kino gezeigt wurde. Marhoul hofft, dass die Zuschauer dann wenigstens den Computerbildschirm ihrem Smartphone vorziehen, bedauert aber zugleich, dass nicht jeder Zuschauer seine auf 35MM gedrehte Arbeit wie vorgesehen mit 5.1-Surround-Sound sehen wird – ein Umstand, der sich dank der vorliegenden Veröffentlichung nun hoffentlich zumindest für jene bessert, die den Film in bestmöglicher Qualität sehen wollen. Marhouls Ausführungen sind dem aufmerksamen Leser des Booklets oder dem Zuschauer von „Die elf Farben des Vogels“ oft nicht mehr ganz fremd; so wird unter anderem erneut die schwierige Finanzierungsproblematik ausgeführt, diesmal aber ganz ohne Schnitt und demzufolge mit detaillierteren Ausführungen. Später beantwortet Marhoul dann noch Fragen, die vom Live-Publikum (in dem sich laut Organisatorin auch potenzielle deutsche Verleiher befanden) über den Chat gestellt wurden; möglicherweise ja Fragen, die man sich auch schon selbst nach Ansicht des Films gestellt hat.
Zur Abrundung gibt es dann noch den Trailer zum Hauptfilm. Der DropOut #041 von Bildstörung bietet also mit „The Painted Bird“ ein ungewöhnliches, äußerst sehenswertes, wenn auch sehr schmerzhaftes Drama in gewohnt brillanter Präsentation, begleitet von einem schön aufbereiteten Booklet und zwei Bonus-Features in Spielfilmlänge, die auch lange nach Beendigung des Hauptfilms noch beschäftigen werden.
Sascha Ganser (Vince)
Bildergalerie
Sascha Ganser (Vince)
Was hältst du von dem Film?
Zur Filmdiskussion bei Liquid-Love
Copyright aller Filmbilder/Label: Szenenfotos © 2019 – Silver Screen – Ceska Televize – Eduard & Milada Kučera – Directory Films – Pubres – Certicon Group – RTVS – innogy – Richard Kaucký – Alexander Kushaev, Poster/Packshots/Verleih Bildstörung__Freigabe: FSK 18__Geschnitten: Nein__Blu Ray/DVD: Ja/Ja |